Jetzt erwünscht in Europa: Die „richtigen“ Flüchtlinge

Einen kompletten Umschwung im Umgang mit Geflüchteten hat die EU mit der Aktivierung der „Massenfluchtrichtlinie“ beschlossen. Satt sonst üblicher Beschränkungen und Repressalien, die der Abschreckung dienen werden Flüchtenden nun „Arbeitserlaubnis für die Vertriebenen sowie Zugang zu Sozialhilfe, medizinischer Versorgung, Bildung für Minderjährige und unter bestimmten Bedingungen auch die Möglichkeit zur Familienzusammenführung“ versprochen. Anders als man es von der EU gewohnt ist, zeigt sie sich nun „zur gemeinsamen, schnellen und unbürokratischen Aufnahme von Kriegsflüchtlingen“ bereit.

Jedenfalls wenn es sich bei ihnen um Menschen aus der Ukraine handelt, die nach dem Kriegsbeginn vom 24.01.2022 das Land verlassen haben. Und diese Bedingung ist bezeichnend. Denn die gleiche „Willkommenskultur“ gilt parallel dazu und (weiterhin) nicht für ebenfalls hilfsbedürftige Menschen aus der Flucht, die vor anderen Kriegs- und Elendszuständen etwa aus Libyen, Irak oder Afghanistan flüchten. Die EU scheidet also einmal wieder zwischen erwünschten und unerwünschten Flüchtlingen und gibt damit zu Protokoll, dass Flüchtlingspolitik – entgegen ihres guten und immer wieder enttäuschten Rufes – nicht Maß am Leid Betroffener nimmt, also auch nicht Hilfe für Geflüchtete zum Zweck hat. Denn hilfsbedürftig sind sowohl Ukrainer als auch Menschen aus dem Libanon oder Afghanistan.

Menschen aus der Ukraine sind derzeit und zunächst für ein Jahr lang deswegen erwünscht, weil sich mit ihnen eine klare politische Botschaft bzw. Anklage senden lässt – diesmal allerdings nicht wie sonst üblich primär an ihren Herkunftsstaat, sondern einen Dritten: Jede aufgenommene geflüchtete Person aus der Ukraine steht für ein unschuldiges Opfer, das Russlands Krieg gegen die Ukraine produziert hat, setzt also symbolisch den russischen Staat und seine Kriegszwecke als (grund- und zwecklose) ‚Aggression‘ ins Unrecht. Mit der Flüchtlingsaufnahme wird die Macht, die für die alleinige Verursachung der Flüchtlinge verantwortlich gemacht wird (dass Menschen auch vor dem Kriegswillen ihres Heimatstaates, lieber die Bevölkerung zu opfern statt seine Souveränität aufzugeben, flüchten können wollen, sei hier nur nebenbei ergänzt) delegitimiert, ihr also der Respekt entzogen. Insofern erklärt sich die aktuelle Wende in der Flüchtlingspolitik aus der Gegenfrontstellung der EU gegenüber Russland, also aus dem Umstand dass die EU eine Kriegspartei in einer aktuellen Mächtekonfrontation ist. Mit der einstimmigen Annahme der Asyl-Richtlinie hat die EU außerdem demonstriert, dass sie geeint gegen Russland steht. Zwar werden die entscheidenden Gegenmaßnahmen gegenüber der Russischen Förderation auf den Feldern Finanzmarkt und Waffen beschlossen, aber ein Unterpunkt ist eben auch die Regelung der mit jedem Krieg anfallenden Flüchtlingsfragen. Die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine haben diesmal im Unterschied zu Geflüchteten zu Zeiten des Irak- oder Jugoslawienkrieges allerdings das Glück, dass diesmal nicht der Westen für den Angriffskrieg gesorgt hat.

Menschen auf der Flucht mit der „falschen“ Nationalität werden weiter an den europäischen Außengrenzen abgewiesen, weil und sofern ihre Aufnahme für die europäischen Staaten weder ökonomischen noch politischen Nutzen verspricht. Dass diese Aussortierung auch ganz wunderbar rassistisch begründet werden kann – wenn die unerwünschten, nicht-europäischen „Fremden“ als „Bedrohung der Volksidentität“ gehandelt werden – zeigen die Aktionen osteuropäischer Grenzbeamter, wenn sie Menschen mit dunklerer Hautfarbe im Unterschied zu Weißen nicht passieren lassen wollen. In ihrem Rassismus dürfen sie sich bei ihrer Scheidung in erwünschte und unerwünschte Flüchtlinge von oben ermutigt fühlen: »Das sind nicht die Flüchtlinge, an die wir gewöhnt sind«, sagte Bulgariens Premier Kiril Petkow Ende Februar. Und weiter: »Diese Menschen sind Europäer. Diese Menschen sind intelligent, sie sind gebildet.« (Zitate aus: junge Welt, 01.03.2022) So kann man dem außenpolitischen Instrument der Flüchtlingspolitik die rassistische Weihe und dem eigenen Volk einen ‚guten‘ Grund für eine neu geforderte ‚Toleranz‘ und ‚Solidarität‘ geben: Die Ukrainer passen einfach zu „uns“!

Ausführliches zum Thema inwiefern die Flüchtlings- und Asylpolitik gar nicht in Fragen von Mit- oder Unmenschlichkeit aufgeht, sondern eine Frage des außenpolitischen Interesses und der jeweiligen staatlichen Freund- und Feindschaftsverhältnisse ist, findet sich u.a. in folgenden Publikationen:

Incels – Die Rache der ‚Loser‘

Frauen müssen einfach nur mit uns schlafen, um das nächste Incel-Attentat zu verhindern.“ (Zitat aus einem Incel-Forum, gefunden bei Kracher, V.: „Incels“, S.93)

Incels – das sind unfreiwillig enthaltsam lebende Männer1. Bekannt wurde die Bezeichnung über eine Reihe von Amokläufern in den USA sowie Kanada und auch der Attentäter von Halle hat sich an ihnen ein Vorbild genommen. Neben solchen Attentaten (an hauptsächlich Frauen) tritt die Incel-Community v.a. als eine Online-Subkultur in Erscheinung. Auf Foren und Imageboards wie incels.co, Reddit oder 4/8chan teilen die Nutzer*innen ihr Leiden an Partner*innen- und Sexlosigkeit und drücken ihre Verachtung für dafür verantwortlich gemachte Personen aus. Nicht die gesamte Incel-Community begeht Morde oder sympathisiert mit solchen Gewalttaten, dennoch ist ein großer Teil der Szene von einem fulminanten Hass auf Frauen beseelt, die sie für ihre Lage unfreiwilliger Enthaltsamkeit verantwortlich machen.

In der Öffentlichkeit werden die Incel-Attentäter bislang oft als Einzeltäter mit psychischen Problemen diskutiert, ihre Taten also als Ausdruck psychologischer Defekte festgehalten. So wird einerseits von den (falschen) Gründen, die die Attentäter für ihr Tun haben, abstrahiert und andererseits ihr Tun außerhalb des normalen Verhaltens gerückt. Letzteres verdankt sich dem Umstand, dass sie unbefugt zum Mittel der Gewalt gegriffen: Zur Durchsetzung ihrer Interessen Gewalt anzuwenden ist Bürger*innen nicht gestattet. Insofern haben sich die Amokläufer also außerhalb des normalen, nämlich rechtlichen Rahmens, gestellt. Mit der rechtlichen und psychologischen Sortierung der Incel-Attentäter als Abweichung vom Normalen ist allerdings noch gar nichts erklärt, lediglich wird mit dieser Abgrenzung vom gesellschaftlich Gewünschten ein Gegensatz der Denke und Taten der Incels zur gesellschaftlichen Normalität behauptet.

Demgegenüber soll die folgende Analyse der Grundzüge der Incel-Ideologie zeigen, inwiefern die Attentate mörderische Konsequenzen ihrer Weltanschauung sind und auf welchen leider allgemein verbreiteten gedanklichen Grundlagen ihre Ideologie beruht. So dürfte dann auch deutlich werden, dass der Verweis auf verrückte Einzeltäter an der Sache vorbeigeht und die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und in ihr verbreiteter patriarchaler Normen, deren Geisteskinder die Incel-Mörder sind, ausspart. Ebenso soll – entgegen Autor*innen wie Veronika Kracher – hier keine Psychopathologie von links betrieben werden, indem Incels als autoritäre Charaktere verbucht werden. Bei aller bei Incels vorhandenen Liebe zur Einbildung von sich als eigentlich überlegenen Männern, die Genuss an der Bestrafung von schuldhaften Personen haben, wäre solch eine „Neigung“ allemal eine Folge der Weltsicht der Incels und nicht ihr eigentlicher Grund. Deswegen soll es darum gehen, die mörderische Logik der Incels ernst zu nehmen statt sie als Oberfläche eigentlich ablaufender psychologischer Mechanismen und Deformationen zu behandeln.

Sexlosigkeit als Unwert-Urteil

Der Name „Incels“ gibt einerseits Auskunft über einen Umstand, der als Leiden empfunden wird: Sogenannte Incels2haben keinen Sex, wollen aber welchen. Zugleich drückt die Bezeichnung als selbst gewählte auch eine Stellung der betreffenden Männer zu ihrem Leiden aus: Sie nehmen es für so bestimmend, dass sie sich gleich als Person damit identifizieren.

Am Maßstab „Sex haben“ oder „nicht haben“ sehen Incels die Menschen auseinander sortiert, an ihm entscheide sich, wer etwas in der Welt gilt und wer nur Verachtung erfährt. Sich selbst sehen und erleben sie demnach als von der Gesellschaft Ausgemusterte und Gedemütigte.

Dabei beziehen sich Incels auf den Umstand, dass Sex in der modernen bürgerlichen Gesellschaft als so etwas wie ein Glücks- und Erfolgsmesser im privaten Wettbewerb um Anerkennung gilt. In der Perspektive gilt er eben nicht nur als schöne Sache aneinander genossener und miteinander geteilter Lust, sondern als das Ideal eingelösten Glücks und zugleich als eine Art Leistungsauskunft über die Person. 

Als Frage des Glücks soll Sex für eine Art Totalbefriedigung sorgen, weswegen es auch so stark darauf ankommt, dass und wie man welchen hat, so dass er also klappt. Einerseits wird so die Frage gegenseitiger Wertschätzung auf einen pur physischen Vorgang runtergebracht, andererseits wird der dann aber auch total überhöht, indem von ihm das Gelingen von Leben und Partnerschaft abhängig gemacht wird. So – als Glücksgarant aufgefasst – zeigt sich die traurige Rolle, die Sexualität am Ende in unserer freien Welt spielt: Sie soll das Leben insgesamt irgendwie ins Positiv bringen, also für die im Alltag offenbar anfallenden negativen Erfahrungen entschädigen, ohne das gegen deren Gründe vorgegangen wird. Insofern ist (auch) dieses Glücksprogramm eine Sache des bornierten Festhaltens daran, dass man doch ein Recht auf Zufriedenheit hätte – „trotz allem“ und gerade weil dauernd Gründe für Unzufriedenheit im bürgerlichen Alltag anfallen, den man aber nicht abstellen will. So erweist sich der Glücksanspruch als eine Form des Willens zum Aushalten von unbekömmlichen Zuständen.

Als Frage des Erfolgs soll Sex zur Selbstbestätigung und Selbstdarstellung taugen: Sich Sexualpartner*innen und (anderen) sexuelle Befriedigung zu verschaffen, wird zur Leistungsanforderung, an deren Erfüllung sich die eigene ständig unter Beweis zu stellende Attraktivität bestätige und an deren schierer Menge, sich die eigene Potenz zeige. So gilt Sex-Haben als Ausweis ein zu eigenem Erfolg fähiger Mensch zu sein. Und so wird dann auch Sex-Haben zu einer Frage des Selbstwerts – wie umgekehrt Kein-Sex-haben zum Ausdruck von Unattraktivität, Erfolglosigkeit und Unwert der Person wird. 

Incels bemerken den Wettbewerb um Attraktivität, Sexual- und Beziehungspartner und halten an ihm in erster Linie ihr schlechtes Abschneiden in ihm fest. Die permanente Glückssuche kritisieren sie nicht als verkehrten Materialismus der Kompensation, sondern als eine viel zu oberflächliche – bezöge sich in ihrer Sicht doch nur auf Fragen körperlicher Attraktivität und sexueller Aktivität.3 So wie alle anderen auch nehmen sie ihr relatives Abschneiden in diesem Zirkus um Anerkennung als eine Auskunft über ihre Person – und wo Sex-Haben zu einer Frage des „Werts“ der Person wird, wird daraus schließlich auch – wenn der „Selbst-Wert“ wegen Sexlosigkeit als nicht vorhanden beurteilt wird – eineExistenzfrage: Ihr eigenes an gesellschaftlichen Maßstäben und Normen gebildetes Unwert-Urteil über sich selbst haben zumindest die bekannten Attentäter derart ernst genommen, dass sie ihre eigene unwürdige Existenz nicht mehr aushalten wollten und sich im Anschluss an ihre Taten das Leben genommen haben.4

In dieser letzten Konsequenz aus mangelnden Selbstwert (verrückt werden; Selbstmord) steckt im Übrigen auch eine Wahrheit über das allseits geschätzte Selbstbewusstsein: Man braucht es, um Misserfolge wegzustecken und trotzdem weiterzumachen. Um in einer Gesellschaft, die auf Konkurrenz um Bildung, Einkommen, Wohnraum, Anerkennung beruht, in der also jede*r auf sich gegen die anderen gestellt ist, nicht den „Glauben an sich“ zu verlieren – trotz dessen, dass Konkurrenz mit Notwendigkeit Verlier*innen produziert.

Incels bleiben – auch hier knüpfen sie an eine ganz normale Geisteshaltung an – nicht dabei, lediglich ein Bedauern darüber festzuhalten, dass sie (derzeit oder schon seit längerem) keine (Sexual-)Partnerin finden konnten und auch nicht bei ihrem sich anlässlich davon gebildeten Selbstbezichtigungen deshalb insgesamt ziemliche Versager zu sein. Sie halten den Umstand des „Fehlens“ gleich als eine Art Rechtsbruch fest. Ihr (ideelles) Recht auf Glück, Beachtung und Respekt sehen sie verletzt, wenn sie die eigene Sexlosigkeit und ihr Singledasein betrachten. Mit dieser Einbildung so etwas wie einen Anspruch auf Erfolg und Zufriedenheit zu haben sind Incels nicht allein: Viele verwechseln die rechtliche Erlaubnis sich um den Erfolg der eigenen Interessen und Lebenspläne zu kümmern mit einer Art Erfolgsversprechen und fühlen sich dann in der Regel von ihren Mitmenschen oder der Politik betrogen, wenn sich Misserfolge einstellen – wofür die bürgerliche Welt mit ihrer allseitigen Konkurrenz in Beruf, Politik und Privatleben viele „Gelegenheiten“ bietet.

Dieses eingebildete Recht auf Kompensation sehen Incels vom weiblichen Geschlecht missachtet, dem ihr sexuelles Interesse gilt. Von Frauen erwarten sie dabei neben Sex auch lauter emotionale Fürsorge, erheben also einen allgemeinen Anspruch auf weibliche Aufmerksamkeit und Care Arbeit.

Die Idealisierung von Partnerschaft und Sex: ‚Eine Frau haben‘ – das Glücksversprechen schlechthin

Ein Lächeln war alles, was es brauchte, um meinen kompletten Tag zu verbessern. Die Macht, die schöne Frauen besitzen, ist unglaublich. Sie können für einen Moment die ganze Welt eines verzweifelten Jungen verändern, indem sie lächeln.“ (Rodgers, E.: „My twisted world“, S. 76, Übersetzung Kracher, V.)

Das verzweifelte Interesse nach weiblicher Beachtung wird verdreht in Macht, die Frauen – zumindest so lange sie für attraktiv und deswegen für interessant befunden werden – hätten: Eine Macht zur ‚Gewährung‘ oder ‚Vorenthaltung‘ von Aufmerksamkeit und Zuneigung. Diese Macht besteht genauer darin, „dem verzweifelten Jungen“ ein positives Selbstgefühl zu verschaffen – oder aber ihn umgekehrt sein ‚Elend’ spüren zu lassen. Das heißt: Ihr Interesse anFrauen, die Funktionalisierung weiblicher Kontakte für ihre Selbstwertaufpäppelung verkehren Incels in eine Macht, die Frauen deswegen über Männer hätten. Diese Bewertung hat insofern ihre Logik als sich das Interesse nach Bestätigung (durch Frauen) auch von ihnen abhängig macht.

Diese „Frauenmacht“ hat allerdings etwas fragwürdiges: Sie besteht nämlich demnach (lediglich) darin, Männern den Zugang zu sich – ihrem Körper, ihrer Zuwendung – zu gewähren oder zu verwehren: Nur relativ zum männlichen Begehren hat ‚die Frau‘ damit ‚Macht‘ und spielt damit dann auch nur für es eine Rolle. Insofern zeugt diese Frauen zugesprochene Macht von einer Perspektive, die Frauen auf den privaten Bereich von Liebe und Sexualität festlegt, also von allen politischen und ökonomischen Machtpositionen ausschließt. Verfügen tut ‚die Frau‘ demnach ja auchnicht über irgendwelche gesellschaftlichen Machtressourcen, sondern nur über sich selbst. Insofern macht sich der Befund der ‚Macht‘ eigentlich am Umstand fest, dass Frauen einen Willen haben und entscheiden können, wem sie wie Aufmerksamkeit entgegenbringen. Die Problematisierung weiblicher Macht – zum Ausschluss von sich – nimmt insofern Maß am Ideal weiblicher Willenlosigkeit und zeugt umgekehrt von einem männlichen Verfügungsanspruch auf den Willen der Frau.

Den Willen von Frauen empfinden Incels deswegen als so ein Problem, weil Frauen damit Männer von dem, wovon sie sich Erfüllung versprechen ausschließen können: Sich selbst, ihre emotionale und sexuelle Zuwendung. Damit sind Männer in Sachen Glück abhängig von anderen. Kurz: Die Idealisierung und Objektifizierung der Frau zum Glücksversprechen schlechthin trifft auf das reale Dasein der Frau als Subjekt und begründet so die Macht der Frau.

Umgekehrt entspricht der so zurecht phantasierten Macht von Frauen über das Glück der Männer die empfundene Ohnmacht der Männer – insbesondere wenn sie sich wie Incels immerzu nicht beachtet wähnen.

Gegen die Perspektive muss man aber festhalten, dass beide Seiten – Macht und Ohnmacht – Produkte der Glückssuche sind: Weil Frauen zum Glücksversprechen idealisiert werden und – in der Incel-Perspektive kaum vorgesehen – über einen eigenen Willen verfügen, erfahren sich Incels als ohnmächtige Opfer weiblicher Nicht-Beachtung.

Diesen Blick auf Frauen* hat sich nicht erst die Incel-Community ausgedacht. Er gehört zum Alltag unserer aufgeklärten Gesellschaft, wovon u.a. der ständig sexualisierende Blick auf Frauen in der Öffentlichkeit, die Rede von den „Waffen der Frau“ oder die Idealisierung des weiblichen Geschlechts zum ganz aparten ‚Anderen‘, dass man sehnsuchtsvoll begehrt und als Freundin/zur Frau „haben“/“nehmen“ will.

Der Frau wird in solchen Würdigungen so etwas wie die Fähigkeit zum Glücklichmachen zugeschrieben: Mit ihrer Fürsorge und ihrem Körper habe sie es in der Hand, für Glück bei ihrem Gegenüber zu sorgen, also für alle Negativ-Erfahrungen zu entschädigen. Dieses Ideal der Kompensation ist dann die Jobbeschreibung für „die Freundin“.

Der Idealisierung der Frau zur Garantin allumfassender Befriedigung und Bestätigung entspricht die Abhängigkeit und Passivität der Sehnsucht. Wer sich vom „Freundin haben“ die Erfüllung verspricht, überantwortet sein (psychisches) Wohlbefinden anderen (Frauen) und dem kompensatorischen Konstrukt ‚Glück‘ und sieht seinen Selbstwert ohnmächtig der zufälligen Bestätigung durch Angehörige des weiblichen Geschlechts ausgeliefert.

Das Verbrechen der Frauen: Nicht-Beachtung und mit den Falschen schlafen

Von Frauen, von denen sie nicht beachtet werden, fühlen sich Incels aktiv zurückgewiesen. Aus einem Nicht-Verhältnis wird so ein bewusster Wille zur Ignoranz, der auf Zurückweisung und Degradierung des Gegenübers zielt.

Diese irre Deutung zeugt davon, dass Incels nicht nur den Wunsch nach Kontakt zu bestimmten Personen des weiblichen Geschlechts haben, sondern sich einen allgemeinen Anspruch auf Beachtung durch Frauen einbilden. Nur insofern man ohnehin Frauen lediglich unter der Forderung wahrnimmt, dass sie für Männer da zu sein hätten, wird aus einem nicht bestehenden Verhältnis ein ‚Angriff‘ und aus einer Abweisung eine ‚traumatisierende Grausamkeit‘5. Aus dem Umstand in keinem Zuneignungs- oder Sexualverhältnis mit einem Incel zu stehen bzw. stehen zu wollen, wird in der Incel-Perspektive eine Verweigerung, welche auf die demütigende Botschaft abziele, Incels als Versager zu stempeln.

Weil sich Frauen allerdings nicht in allgemeiner Enthaltsamkeit üben, sondern sich angeblich nur ihnen ggb. in demütigender Absicht ‚verweigerten‘, entwickeln Incels einen missgünstigen Blick auf Frauen und deren partnerschaftliche und sexuelle Verhältnisse: An ihnen und ihren Partnern muss dann alles falsch sein. Und wo Frauen zuvor als ‚arrogant‘ beurteilt wurden, weil sie nicht mit Incels schlafen, gelten sie nun als geradezu ‚sexbesessen‘, immer darauf aus, „das Schwanzkarussel zu reiten“. 

Der Hintergrund: Biologistischer Sexismus – die zweifelhafte Sexnatur der Frau und die biologische Sexwert-Hierarchie der Menschen 

Die – in der Incel-Deutung – auf Demütigung zielenden Frauen, welche sich offenbar zu schade für Incels sind, aber gar nicht im Allgemeinen auf Sex verzichten, werden allein schon deswegen, weil sie nicht mit Incels schlafen der ‚Oberflächlichkeit‘ und ‚Sexbessenheit‘ bezichtigt.

Diese moralischen Beschwerden gegen Frauen, die nicht tun, was sie sollen, bauen Incels zu einer richtigen ‚Theorie‘ aus. Dabei lassen sie sich streng von der Frage leiten: Wie kann sein (Sexlosigkeit), was nicht sein darf (Sexlosigkeit)? Insofern fragen sie von vornherein nach  Hinderungsgründen für das, worauf sie sich einen Anspruch einbilden und welche ihnen die ‚Notwendigkeit‘ ihres Scheitern plausibel machen sollen.

Dabei überlegen sie sich die Sache so: Es herrsche unter Menschen wie unter Tieren ein Wettbewerb um Sexualpartner*innen. Der wird sich ganz biologistisch vorgestellt, nämlich als Frage von Reiz-Reaktions-Mechanismen6. Die Frau wird hier ganz als ein Naturwesen aufgefasst, das – angetrieben von seinem ‚Sextrieb‘ – lediglich auf äußerliche Reize (des Mannes) anspringe und auch generell bloß reagiere. Diese Entsubjektivierung zeigt sich auch an den in der Incel-Szene Frauen vorbehaltenen Begrifflichkeiten wie ‚femoids‘ (=Female Humanoid/Female Android). Zwar wird so betrachtet eigentlich der weibliche Wille zum Sex ganz heraus gekürzt, dennoch wird Frauen – weil sie sich so sehr von äußerlichen Merkmalen leiten und qua Sexverweigerung nicht die besonderen Qualitäten von Incels gelten ließen – der Vorwurf der Oberflächlichkeit erhoben. Incels beklagen weiter, dass Frauen lediglich darauf aus seien, möglichst viel Sex zu haben. Gleichzeitig wollen sie aber auch erkannt haben, dass die Sexnatur der Frau durch ganz bestimmte Körpermerkmale reizbar sei: Einen speziellen Körperbau, Schädelform etc. präferiere der Sextrieb der Frau. So dass der doppelte Vorwurf gegen Frauen erhoben wird, gleichzeitig sexbesessen bzw. zu oberflächlich und viel zu anspruchsvoll zu sein. Und um den Widerspruch komplett zu machen, wird Frauen zur Naturtriebhaftigkeit auch noch ganz viel Berechnung nachgesagt: Dann nämlich, wenn sich eine Frau mit einen Nicht-Alpha-Mann abgibt – dann sei sie ganz materialistisch nur auf „Geschenke“ von ihm, also drauf aus, ihn auszunutzen.7Alles in allem ergibt sich aus jeder der einander widersprechenden „Eigenschaften“ das Urteil über die Frau als einer moralisch verkommenen Gestalt: Als halbes Tier kaum fähig zur Verbindung mit vernünftigen Menschen, als Egoistin unwillens zur Gemeinschaft.

Nach dem Grad oder der Menge hervorgerufener sexueller „Reaktionen“ bei Frauen ergebe sich dann Hierarchie zwischen Männern, auf die sich vom „Chad“ oder „Alphamann“ über den „Normie“ bis zum „Incel“ am Ende unterschiedlich physiologisch und charakterlich definierte Typen von Männern verteilten.8 Alles in allem eine durch und durch biologistische Auffassung von Begehren, die den ganzen Willen der Beteiligten herauskürzt – zugunsten einer albern animalischen Vorstellung von Attraktion und Sexualität, bei der der Frau dann zudem auch noch eine ganz passive Rolle ‚von Natur aus‘ zugeschrieben wird.

Weil sie Begehren als bloß physiologische Angelegenheit auffassen, ist für Incels die Frage von Attraktivität mit dem Vorhandensein oder „Fehlen“ von körperlichen Merkmalen („Heightcels“ „mangele“ es z.B. an Körpergröße, „Wristcels“ seien etwa mit „zu schmalen“ Handgelenken „gestraft“ etc.) entschieden. Zwar sehen sie die Möglichkeit der Veränderung des Körpers durch willentliches (etwa Sport, Ernährung) oder gesellschaftliches Einwirken (chirurgische Eingriffe) und befeuern sich gegenseitig auch z.T. im Ziele des „Looksmaxxing“, sehen aber dafür auch gewissermaßen enge Grenzen. Da sie etwa das Aussehen primär als von der Knochenstruktur determiniert betrachten und das Aussehen zum alles entscheidenden Kriterium erklärt haben, finden sie sich vor eine ziemlich absolute Schranken gesetzt: Ihre Physiologie soll sie sozusagen zum Verlierer stempeln und da sie an der nur sehr bedingt etwas oder gar nichts ändern können, betrachten sie ihre Unterlegenheit und ihren „daraus“ sich ergebenden Verliererstatus für unüberwindbar. Derart hässliche Exemplare der Gattung Mann wie sie hätten einfach keine Chance von Frauen begehrt zu werden. Ihr sexloses Schicksal sei also besiegelt. Und weil Incels die Frage der Attraktivität für Sexualpartner – ganz ihrer biologistischen Auffassung des Geschlechterverhältnisses entsprechend – zur alles entscheidenden sozialen Frage erklären, ist mit der selbst attestierten Unattraktivität in ihren Augen eigentlich auch schon über ihren generellen gesellschaftlichen Status entschieden. Denn für sie verläuft die entscheidende Grenze zwischen Sex habenden und sexlosen Menschen und: „Mit Attraktivität geht für Incels gleichzeitig immer Erfolg, Vermögen und auch Potenz und Virilität einher.“ (Kracher, Incels, S. 45)

Das Selbstbild von sich als anständiger und intellektueller Außenseiter:

Statt den gesellschaftlichen Wettbewerb im Allgemeinen und um Attraktivität und die Bedeutung von Sex für den bürgerlichen Selbstwert im Besonderen als schädliche Verkehrung der Konkurrenz in eine Frage der Fähigkeiten der Personen zu kritisieren, sehen sich Incels von ihrem (vermeintlich) schlechten Abschneiden im Wettbewerb um Partnerschaft und Sex gekränkt. Da sie die Frage ihres Selbstwerts – anhand des Erfolgs auf den Feldern sexueller Attraktion und Leistung – zur wesentlichen über ihre Existenz erklären, sind sie nicht nur ständig mit ihr beschäftigt, sondern auch mit dem eigenen ‚Versagen‘. Das geht so weit, dass sie es in allen möglichen sozialen Interaktionen erleben und sich dazu vorarbeiten, dass beliebige andere Personen sie das auch spüren lassen wollen. So verwandeln sie ihr Versagens-Urteil in den Wahn, ständig öffentlich gedemütigt zu werden – das mag sich dann festmachen an sich sonnenden Frauen oder in der Öffentlichkeit Händchen haltenden Paaren, die ihrerseits nicht einmal aktiv mit ihnen in Kontakt treten wollen oder auch an Personen, die das in irgendeiner anderen Art als der beanspruchten Weise tun.9

Der eigenen Kränkung entspricht die Verachtung anderen: Oberflächlich, sexversessen, animalisch, brutal. Den Urteilen über die Restgesellschaft, die sie angeblich vom Sex ausschließe, ist dabei dann zu entnehmen, dass Incels sich von ihr positiv abgrenzen wollen: Sie seien nicht einfach animalisch ihrer Natur ausgeliefert, sondern hätten Geist.  So ließen sie sich nicht von bloßen Äußer- und Oberflächkeiten leiten, sondern seien irgendwie tiefer, irgendwie ernsthafter, irgendwie innerlicher und irgendwie netter.10 Diese eingebildeten Abhebungen vom sexbesessenen Rest zeigen, dass Incels das mit der Sexlosigkeit vermeintlich über sie gesprochene Unwert-Urteil nicht einfach gelten lassen wollen: Ihrem Selbstbild entspricht das vermeintlich oder tatsächliche gesellschaftliche Urteil nämlich nicht. Zwar betrachten sich Incels durchaus als ziemliche Versager, erklären im nächsten Schritt allerdings das ganze Feld der Sexualität zu einem unwesentlichen, über das sie als moralische Individuen und unangepasste Intellektuelle ohnehin erhaben seien. So kontern sie ihr eigenes Versagerurteil mit einem kompensatorischen Selbstideal. In dieser Perspektive können sie sich dann als ganz besonders herausgehobene Individuen genießen, die – obwohl deren „Opfer“ – „den Normies“ moralisch und intellektuell haushoch überlegen sind. Die vermeintliche Überlegenheit der anderen – wegen Attaktivität und sexueller Erfahrung – entwertet sich, so dass sie Incels moralisch und geistig eigentlich also als minderwertig gelten.

Die Abgrenzung von der Alpha- und Normie-Gesellschaft hat dabei eine explizit politisch rechte Seite: Sich selbst begreifen viele Incels nämlich als dahingehend aufgeklärt und unangepasst, dass sich keinem angeblich von Frauen, Linken und Marginalisierten angeheizten kulturpolitisch-liberalen, Staat und Gesellschaft beherrschenden „PC-Mainstream“ unterordnen würden, dafür stattdessen nur gehässige Verachtung übrig hätten.11 Zur rechten Gesellschaftsdiagnose gleich mehr.

Die Erklärung für die Lage: Feminismus

Incels erheben nicht nur gegenüber den einzelnen Frauen, die sie zurückgewiesen haben, sondern der ganzen Gesellschaft gegenüber den Vorwurf, die falschen Maßstäbe zu setzen: „Unsere Gesellschaft sei oberflächlich und sexbesessen, und Glück und Erfolg messen sich nur daran, das ‚Game‘ zu gewinnen, was Incels aufgrund ihrer Unattraktivität und der daraus folgenden Sexlosigkeit für immer verwehrt bliebe.“ (Kracher, S.32) Das sei früher noch anders gewesen: Da sei nämlich jedem Mann eine seinem ‚Attraktivitätslevel‘ entsprechende Frau in lebenslanger Ehe garantiert gewesen. Das nennen Incels dann „Looksmatching“. Dieser Zustand gehöre nunmehr aber der Vergangenheit an. Heutzutage seien Frauen einem Anspruchsdenken verfallen, nach welchem ihnen eigentlich nur noch ‚Chads‘ genügten – egal wie ‚unattraktiv‘ sie selbst seien. So ergäbe sich ein Ungleichgewicht in der Verteilung von Frauen auf Männer, so dass einige Wenige Alpha-Männer (die ‚Chads‘) Zugriff auf den Großteil der Frauen hätten und ein immer größer werdender Teil der Männer einfach ‚leer‘ ausginge. Abgesehen von dem irren Besitzanspruch, der sich in dieser ausgemalten „Normalverteilung“ vom „Gut“ Frau auf die Männer offenbart, geben Incels mit ihrer Sicht auf die „ungerechten“ aktuellen Geschlechter-Verhältnisse kund, dass ihr Ärgerniss grundlegend im Umstand, dass Frauen über einen freien Willen verfügen und sich  in Sachen Partner- und Beziehungswahl im Vergleich mit früheren Geschlechterarrangements entscheiden können. So haben sich Männer heutzutage also mit dem ‚Problem‘ der Selbstbestimmung von Frauen über ihre eigene Sexualität, ihren Körper und ihre Lust herumzuschlagen.12

Für diese ‚Fehlentwicklung‘ und ‚Ungerechtigkeit‘ an minder bemittelten Männern machen Incels den Feminismus und ‚Kulturmarxismus’ verantwortlich: 

Durch sie wären Frauen so sehr in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt worden, dass sie – in den Augen von Incels – viel zu hohe Ansprüche in Bezug auf potentielle männliche Partner entwickelt und eine generelle Machtposition gegenüber Männern erworben hätten. Letztlich bzw. objektiv machen Incels den Grund für ihre ‚Lage‘ als ‚Opfer‘ darin aus, dass Frauen als Rechtssubjekte vom Staat anerkannt worden sind und als solche sowohl über das Abschließen von Verträgen, Eingehen und Auflösen von Ehen und den eigenen Körper und ihre Sexualität bestimmen dürfen13.

Diese Veränderungen stellen sich in der Incel-Ideologie im Resultat als für Männer im Allgemeinen und Incels im Besonderen ‚untragbare‘ Verhältnisse dar: „In ihren Augen ist die Welt eine von Kulturmarxismus und Political Correctness beherrschte Dystopie, in der Frauen Männer durch ihre Sexualität kontrollieren und mit feministischen Superwaffen wie ‚falschen Vergewaltigungsandrohungen‘ (vermutlich: -vorwürfen) in Schach halten, und in der Männer so eingeschüchtert sind, dass sie nichts anderes tun, als jede erdenkliche Laune dieser kapriziösen Weiber zu erfüllen.“ (Kracher, S.39) Die Bestimmung über den eigenen Körper und feministische Kritik gelten Incels im Grunde als Unterdrückungsmittel und Waffen von Frauen zur Etablierung einer quasi-widernatürlichen Herrschaft von Frauen (und weiter von nicht-Weißen Minderheiten) über (nicht nur, aber auch Weißer) Männer14.

Während Frauen als Berufstätige und als Trägerinnen vom Recht sexueller Selbstbestimmung in der Incel-Ideologie ihre Rolle als Frau verletzen, würden Männer in den aktuellen, polit-moralisch verdorbenen Verhältnissen ihrer Männlichkeit entwöhnt, so dass sie sich die ‚Unterdrückung‘ und ‚Abhängigkeit‘ von Frauen auch noch kollektiv gefallen ließen.

Die Antwort: Bestrafung des matriarchalen Unrechts per Femizid

Von der Diagnose, dass sie mit ihrer sexlosen Lage Opfer eines einzigen feministischen Verbrechens sind, kommen Incels auf das Bedürfnis das Unrecht zu vergelten. Ob als Phantasie oder – in bitterster Konsequenz – als Massenmord betätigen sie ein Strafbedürfnis.

In einer Variante wird das aus dem Vergleich mit Sex Praktizierenden gewonnene Unterlegenheitsgefühl für eineBestrafungphantasie des Sexentzugs für alle produktiv gemacht: „Ich begann Fantasien zu entwickeln, in denen ich sehr mächtig wurde und alle davon abhielt Sex zu haben. Ich wollte ihnen ihren Sex nehmen, so wie sie ihn mir genommen hatten. Ich sah Sex als einen bösen und barbarischen Akt an, weil ich unfähig war, ihn selbst zu haben {…} Ich entwickelte die Vorstellung, dass Sex verboten werden sollte.“ (Rodgers, S.56)“ (E. R., Incels, S.72, FN52 ) Ganz nach dem Motto „wenn ich nicht kriege, was mir zusteht, dann soll es niemand bekommen“ wird hier gehässig das eigene empfundene Unrecht durch seine Verallgemeinerung und die Dämonisierung des eigentlich begehrten Sex vergolten. Die Verbotsphantasie entspringt nicths anderem als dem Willen zur Bestrafung: „{Meine Radikalisierung} war beflügelt von meinem Wunsch, alle sexuell Aktiven zu bestrafen, da ich zu dem Schluss kam, dass es nicht fair war, dass andere Menschen Sex hatten, während er mir all mein Leben verweigert worden war. In mir entwickelt sich das Verlangen, eine Welt zu schaffen, in der niemandem erlaubt ist, Sex zu haben oder Beziehungen zu führen {…}. Sex ist böse, da es denjenigen zu viel Vergnügen schenkt , die es nicht verdienen.“ (Rodger,s FN 54, S. 65 Unverdientes Glück gehört anderen entzogen, gerade wenn man selbst unverdienterweise von ihm ausgeschlossen würde – so die gehässige Logik.

In einer anderen Variante wünschen sich Incels ein staatlich zugesichertes „Recht auf Vergewaltigung“ als Kompensation ihrer ‚Unrechtslage‘ herbei.15

Und schließlich, und darüber ist die Incel-Szene überhaupt erst bekannt geworden, ziehen manche Incels in ihren ganz persönlichen tödlichen Rachefeldzug. Für das ihnen angetane Unrecht und die ständig, eben wahnhaft, erlittene Demütigung verlangen diese Incels Vergeltung und „Wiedergutmachung“. Das tun sie im Bewusstsein, Widerstand gegen die ihnen so feindliche Welt zu leisten („Beta Male Uprising“), die ihrer eins klein halten und unterdrückenwolle.16 Der Massenmord an v.a. Frauen wird hier als Aufstand gegen die Herrschaft des Matriarchats und als Mutmacher und Fanal für Gleichgesinnte verstanden.

In Gewaltphantasien und -taten wird die empfundene Ohnmacht (Frau als Machthaberin über den Sex) und Demütigung (Nicht-Gewährung von Sex) kompensiert.17 Ganz im Sinne des Erwehrens gegen einen Unrechtstatbestand soll mit dem Gewaltakt eine „natürliche Ordnung“ wiederhergestellt oder zumindest mit herbeigeführt werden, gegen die der Feminismus verstoßen habe. Die eigene Gewalttätigkeit gilt Incels als Reaktion, als legitime Gegenwehr gegen eine als Negation der eigenen Existenz empfundene Ablehnung: „Die Ablehnung, die Frauen mir entgegenbringen, ist eine Kriegserklärung, und wenn sie Krieg wollen, sollen sie Krieg haben. E wird ein Krieg sein, der in ihrer kompletten und totalen Vernichtung münden wird.“ (E.R., S.131, Incels S.74)

Im Grunde verhält es sich also so: Ihr durch Zurückweisung und Sexlosigkeit gekränktes Anerkennungsbedürfniswollen die Incels nicht auf sich sitzen lassen. Sie halten sich nämlich für sehr anerkennungswürdige, ja eigentlich sehr liebenswürdige und vor allem schlaue Kerle. Dass sie solch außergewöhnliche Menschen sind, die eigentlich nur Anerkennung verdient haben, wissen sie so sicher, dass sie das anderen im Gewaltakt demonstrieren: Er würde jedem zeigen, dass er «der Überlegene, das wahre Alphamännchen» sei.“ (https://www.woz.ch/-90f1) Wer ihnen nicht per Einwilligung in Sex die Achtung und Anerkennung entgegenbringt, die ihnen zustünde/die sie zu verdienen meinen, gehört per Gewalt bestraft und untergeordnet. Sie demonstrieren mit dem Massenmord, dass sie achtungswürdige Gestalten sind, indem sie diejenigen umbringen, die das ihnen die ganze Zeit vermeintlich verwehren wollen würden.

Auch diese Art Rechtsbewusstsein ist nicht nur bei Incels anzutreffen, sondern eine verbreitete Unsitte, an die sie anknüpfen können: Wer sich ein ideelles Recht auf Erfolg und Anerkennung einbildet und angesichts von Misserfolg der Meinung ist, dass ihm die Welt oder ihre Partner*innen das Gegenteil schuldig bleiben, sieht sich missachtet und greift dann in der Überzeugung im Recht zu sein zur Gewalt, um sich den Respekt als anspruchsberechtigte Person zu verschaffen.

1Es gibt auch als „femcels“ bezeichnete Frauen, die sich der Community zurechnen. Zu allergrößten Teilen besteht die Szene der sich selbst so nennenden Incels aus männlichen Personen. Im Folgenden wird deswegen auch immer von Männern die Rede sein, i.E. von heterosexuellen, meist weißen, cis-Männern.

2Im Folgenden werden „Incels“ als heterosexuelle Männer unterstellt, was sich in den Formulierungen niederschlagen wird. Das verdankt sich dem Umstand, dass damit die empirische Mehrheit der sich so Bezeichnenden getroffen ist. Es handelt sich mehrheitlich, wenn auch nicht ausschließlich um ein cis-männliches, heterosexuelles, weißes Phänomen, das sich letztlich als Produkt der bürgerlichen Gesellschaft erweisen wird.

3Zur Beurteilung der gesellschaftlichen Gründe für ihr relativ schlechtes Abschneiden in Fragen der Anerkennung auf dem Feld des privaten Glückes durch die Incel-Community selbst später mehr.

4Auch das Video vom Attentäter aus Halle oder Abschiedsmanifeste von anderen Attentätern sind voll von Selbstbezichtigungen über das eigene Versager-Dasein.

5Hierzu lesenswert die Zusammenfassung des Manifests vom Incel-Attentäter Elliot Rodger in Veronika Krachers Buch „Incels“, ein Ausschnitt:„So wie er Frauen abwertet, überhöht er ihren Einfluss auf sein Leben: als er mit elf Jahren beim Spielen in ein Mädchen rennt und diese ihn als Reaktion schubst und anschreit, betrachtet er diese Tat als ‚Grausamkeit‘, die ihn ‚ohne Ende traumatisiert‘ und ihm ‚lebenslange Narben zufügt‘. Von Frauen grausam behandelt zu werden, ist zehnmal schlimmer, als von Männer grausam behandelt zu werden’, so Rodger; da ihn diese Ablehnung umso mehr damit konfrontieren würde, ein ‚Versager‘ zu sein.“ (Kracher, S.67) 

6Das verkennt die menschliche Sexualität, die nicht lediglich ein körperliches Reagieren ist, sondern Lustempfindung und Begehren, also eine Einheit von körperlicher und geistiger Erregung. Dementsprechend können Menschen auf allerlei Leute und Praxen stehen; und ändert sich auch individuell wie gesellschaftlich, was als begehrenswert angesehen wird mit den je gültigen Maßstäben von Erfolg – entlang derer dann Menschen als attraktiv/unattraktiv sortiert werden.

7Dieser Widerspruch wird auch in ein zeitliches Nacheinander gebracht: Während junge Frauen genetisch pur auf Sex und darin auf die attraktivsten männlichen Alpha-Exemplare programmiert seien, seien „verbrauchte“ Frauen ab Dreißig auf Familienplanung geeicht und suchten sich dafür dann einen zwar mittelmäßigen, aber dafür treuen, also ihnen zumindest Sicherheit bietenden Mann, mit dem sie dann eine ganze „normale“ Familie gründen und so zu „Normies“ würden (vgl. Kaiser, Politische Männlichkeit, S. 28).

8Die Hierarchie der Männer ordnet sich in erster Linie nach körperlichen Merkmalen entlang westlicher Attraktivitätsnormen für Männer, denen dann auch bestimmte Charaktereigenschaften zugeordnet werden. Die Hierarchie selbst richtet sich nach den Chancen, beim weiblichen Geschlecht gut anzukommen. Kurz ein paar Beispiele für die ausgedachte hierarchische Typologie der Männer: Am oberen Ende der Hierarchie steht der Typus des „Chad“, „der nichts anderes ist als eine Klischeezeichnung von Hypermaskulinität, ein Quarterback aus einem High-School-Film“ (Kracher, Incels, S. 44). Chads seien viril, attraktiv (stark, groß, kantiges Gesicht), sexuell erfolgreich, aber auch dumm und brutal – im Prinzip gelten sie Incels als so etwas wie Tiere. Der „Normie“ der breiten Masse gilt weder als besonders hübsch und klug, noch als besonders hässlich und dumm, er sei eher so etwas wie ein Langweiler, der zwar noch sexuellen Erfolg bei Frauen habe, aber nur dann eine Frau ‚abkriege‘, wenn sie ihn materiell ausnutzen wolle. Profeministische oder linke Männer können zwar z.T. auch irgendwie als sexuell erfolgreich gelten, verdienen sich aber als „Soyboys“ (von Sojamilch) Verachtung, da sie sich weiblichen Ansprüchen einfach unterordnen und damit im Prinzip ihre Männlichkeit aufgeben würden. Ganz am Ende der Hierarchie stehen die Incels, als unfreiwillig zölibatär Lebende. Diese ganze innermännliche Sexwert-Hierarchie beziehen Incels dann noch auf unterschiedliche „Ethnien“, wobei allerlei rassistische Stereotypen vom indischen Nerd bis zum Schwarzen Gangster zum Tragen kommen.

Der innermännlichen Hierarchie steht eine innerweibliche gegenüber, welche ebenfalls rassifiziert wird: So stehen Weiße Frauen als „Stacys“ ganz oben und gelten als arrogant und oberflächlich, Schwarze Frauen etwa als sexuell triebhaft, aber laut und raumnehmend, asiatische hingegenals perfekt submissive Partnerinnen. Der Maßstab bei der Betrachtung von Frauen wie Männern ist dabei wie gewohnt Weiß.

9Hierbei identifizieren Incels die Wirkung, die etwa „das Glück“ der anderen auf sie hat – sie fühlen sich als ‚Versager‘ gedemütigt – alsunmittelbar bezweckt, eben als den Willen, sie zu schädigen und zu diskriminieren. So verkehren sie ihren Neid und in das Selbstbewusstsein, Opfer ständiger Diskriminierung zu sein. Ihr Kreisen um den Wert ihrer Person nehmen sie so wahnhaft als eine unmittelbar erlebte„objektive“ Realität.

10Während Incels die „Chads“ für ihre ‚Animalität‘ und Brutalität gegenüber Frauen verachten, betrachten ausgerechnet sie – die sich v.a. in Frauenverachtung üben – sich selbst gern als ganz ‚liebe Kerle’.

11Passend zum Selbstbild des unangepassten Außenseiters wurde in der Incel wie in anderen rechten Szenen die Filmfigur des „Jokers“ extrem gefeiert. In der Figur des von der Gesellschaft ausgestoßenen, ungeliebten Fieslings, der seine Kränkung von der Gesellschaft mit Verachtung und Rache begegnet, sehen Incels anscheinend ihre Position stilisiert und feiern im Nihilismus des Jokers sich selbst. So werfen sie sich in die Pose der Drüber-Stehenden, die die Belange der Restgesellschaf einfach nicht ernst nehmen können, weil sie sie längst als lächerliche „durchschaut“ hätten. Das Dumme und gar nicht ungewöhnliche an dieser Pose: Statt irgendeine bestimmte Kritik an gesellschaftlichen Praxen, Prinzipien oder Ideologien vorzutragen, wird einfach das ganze gesellschaftliche Treiben für Quatsch erklärt, ebenso wie der Wille nach den Regeln der Gesellschaft sein Leben auszurichten: Das sind dann Normies. Somit wird und soll gar nichts kritisiert, sondern lediglich das Selbstbild gepflegt werden, nicht zum angepassten Normalhaufen zu gehören.

12Feminismus und die ‚Sexuelle Revolution‘ hätten „Frauen dazu bewogen, eine lebenslange Ehe mit ihrem ‚Looksmatch‘ gegen einen Ritt auf dem Schwanzkarussel einzutauschen.“ (Kracher, S. 101)

13Dass all diese Rechte wie sonst auch durch einen gesetzlichen Rahmen geregelt und mit ihm jeweils bestimmte Bedingungen verknüpft sind, die die Nützlichkeit des weiblichen Geschlechts für Staats- und Wirtschaftsordnung garantieren, interessiert Incels nicht. Sie sehen mit der etwas gleichgestellteren Position von Frauen stattdessen gleich das ganze Gesellschaftsgefüge unter weibliche Kontrolle gebracht – zu dem inhaltsleeren selbstzweckhaften Ziel, Männer zu beherrschen.

14Als Nationalisten sind zudem anscheinend viele in der Incelszene davon überzeugt, dass die (US-)Politik eine Art ‚Umvolkung‘ betreibe: Per Zulassung von Einwanderung und Erlassung von Anti-Diskriminierungs-Gesetzgebung widme die Politik bzw. die ‚linksliberalen Eliten’ ihre gesetzgebende Macht ‚volksfremden‘ und damit ‚unberechtigten‘ Personengruppen und anderweitig abweichenden ‚Minderheiten’. Das zeige wiederum einen Missstand fundamentaler Art an: Den nämlich, dass die Politik gar nicht mehr dem (‚angestammten‘) Volk diene, es nämlich für allerlei verabscheuungswürdige Zwecke verrate. So stellen sich also auch Teile der Incel community im Streit der US-Öffentlichkeit um die Frage, wer zum (amerikanischen) Volk gehöre und wer nicht, auf die Seite derer, die zum eigentlichen und einzig anspruchsberechtigten Volk im Staat nur den Weißen, heterosexuellen Cis-Mann zählen wollen und meinen, dass genaue dieser von lauter nicht-weißen und queeren Minderheiten bedroht würde und zum Unterprivilegierten gemacht werden solle.

15Im „Rapepill-Manifest“ heiße es in dem Zusammenhang, „dass Vergewaltigung ein natürliches männliches Bedürfnis und außerdem die einzige Möglichkeit für Incels sei, an Sex zu gelangen.“ (Kracher, S.105)

16Manche versteigen sich dabei sogar bis zu Verschwörungsideen wie jener eines beabsichtigten „Incelocausts“ seitens des Feminismus. So phantasieren sich ausgerechnet Leute, die Frauen umbringen oder der tödlichen ‚Rache‘ an ihnen zumindest positiv gegenüber stehen dazu, dass ihr Wille zur Gewalt nichts als Gegenwehr gegen einen gegen sie gerichteten Vernichtungswillen sei.

17Dabei werden anscheinend Ohnmacht und Demütigung als Unrecht am Mann definiert, wenn sie sich an weiblicher Zurückweisung festmachen und Frauen zum vorrangigen Strafobjekt haben: denn sie sind es, die Incels v.a. umbringen.

Cat Calling – Die männliche Ehre verschafft sich Geltung

Cat Calling bezeichnet das plötzliche, einseitige und unerwünschte Anhupen, Hinterherrufen, Ansprechen, Absondern von Kommentaren über weibliche Körper, sexualisierendes Auftreten (etwa Knutschgeräusche beim Vorbeilaufen), Mit- und Hinterherlaufen. Die „Kontaktaufnahme“ passiert ganz ohne eine Rücksichtnahme auf ein etwaig vorhandenes entsprechendes Interesse auf der Seite der Frau. Es findet also „aus dem Nichts“ heraus statt, so dass dementsprechend kaum Zeit ist, um sich darauf einzustellen. Es findet in der Regel auf so dominante (Hupen, Schreien, in unmittelbarer physischer Nähe, mit Kraftausdrücken) Weise statt, dass es nicht zu ignorieren ist. 

So gesehen beanspruchen Männer mit dem Cat Calling ganz unmittelbar und offensiv die Aufmerksamkeit und auch den physischen Raum einer Frau. Sie machen diese Inanspruchnahme nicht vom Interesse der Frau abhängig, nehmen sich also heraus einfach über es zu verfügen. Dementsprechend sind auch die Reaktionen vieler Frauen – in der Reihenfolge: Erschrecken und Angst, Wut oder ein Gefühl der unangenehmen Überraschung. Es handelt sich – auch unabhängig davon, ob sogar noch die Zusatzleistung der Gegenwehr aufgebracht wird – um eine nervliche, emtionale und mitunter physische Belastung und potentielle Gefahr, der sich Frauen ausgesetzt sehen.

Über die Wirkungen der beim Cat Calling stattfindenen Reduzierung von Frauen auf ihren Körper, der unter verschiedenen Maßstäbe der Attraktivität durchgemustert wird und des Eingreifen in ihren persönlichen Raum gibt es mittlerweile genug Erfahrungsberichte1, die sich gerade Männer zu Gemüte führen sollten. Sie sollen allerdings in diesem Artikel nicht der Schwerpunkt sein, weil der Grund für diese übergriffigen Touren geklärt werden soll. Das wiederum verlangt die Konzentration auf diejenigen, von denen das Cat Calling und die damit verbundenen Einschränkungen für Frauen ausgeht.

Angesichts dessen, dass diese Sorte Anmache sich nicht vom Willen der Angemachten abhängig machen will – also auch nicht, ob sie überhaupt verfängt und danach etwa ein Rückzug oder eine Entschuldigung fällt, stellt sich schon die Frage, was Männer mit diesen ungefragten „Gefallensbekundungen“, die wiederum auch ganz schnell in ihr Gegenteil umschlagen können, eigentlich bezwecken. Zur Einordnung: Mit der Erläuterung des Zwecks vom Cat Calling, soll nicht für ein Verständnis für Männer im Sinne eines entschuldigenden „so sind sie nunmal“ geworben werden. Umgekehrt soll mit der Erklärung gerade die Kritik des schädlichen Tuns geleistet werden.

Wie begründen Männer Cat Calling?

Auf kritische Nachfragen, warum eine Frau ungefragt und in der offensiv-bedrängenden Weise angemacht wurde oder auch auf Zurückweisungen des Cat Callings folgen gemeinhin verschiedene Antworten, die selbst Aufschluss über den zugrunde liegenden Zweck des Cat Callens geben:

Ich fand sie heiß.“

Hier wird einfach mit dem eigenen Interesse an der Frau argumentiert. So wird das männliche Empfinden zum Berufungstitel für die Berechtigung des belästigende Agieren erklärt. Das empfundene Gefallen wird dabei so behandelt, als wär es unmittelbar und automatisch auch interessant für die Frau, als müsste es eine Bedeutung auch für sie haben – ganz als habe sie nur auf diese Sorte „Bestätigung“ gewartet. Angesichts dessen, dass es sich um eine unerwünschte Anmache handelt, heißt das, dass das die Entscheidung, das eigene Empfinden von der Frau als gültige Bestimmung über die Frau zu setzen als höher gewichtet wird als der Wille der jeweiligen Frau.

Ihr wollt doch immer angesprochen werden.“

Seid wann immer und vom wem auch immer und egal wie? Die Resultate der Anmachkultur, welche Frauen die passive und Männer die aktive Rolle bei Flirts zuweist, wird hier zum Berechtigungstitel – auch gegen den bekundeten Willen gerade nicht angemacht zu werden. 

Das war ein Kompliment und nicht böse gemeint“

Über Beachtung und Komplimente soll man sich also freuen. Dass die Art der Beachtung eine ist, die sich an sämtliche Maßstäbe von Attraktivität festmacht und so Schönheitsnormen, Rassifizierungen etc. reproduziert, ist hier nebenbei bemerkt nicht einmal einen Gedanken wert.

Die Frau wird unterstellt als eine deren Selbstwert auf die Bestätigung durch Männer ausgerichtet ist, wenn Komplimente bekommen als etwas angesehen wird, worüber sich Frauen doch in jedem Fall freuen müssten.

Angesichts dieser „Freude“, die Männer da freihaus verschenken, wollen sie dann auch nicht verstehen können, warum es überhaupt zu Kritik oder Zurückweisung kommt – denn Besttätigung ist ja nicht „böse gemeint“. Den bedrohlichen und Angriffscharakter von lauten Hupen, Hinterrufen, Anschreien aus einer Gruppe heraus oder Hinterher- und Mitlaufen leugnen sie nebenbei ganz geflissentlich – weil das ist ihnen halt ein ganz normales und gewohntes Verhalten. Weil sie ja was so „nettes“ und – in sexistischer Logik – dem weiblichen Willen Entsprechendes tun, verdient ihr Verhalten einfach keine Zurückweisung. Und wenn es doch ein Abfuhr erfährt, nehmen sie das als etwas „böses“, Unrechtes eben, was ihnen da widerfährt – ganz als hätten sie nämlich „was böses“ getan, wie ungerecht! Kritik kennen sie nebenbei bemerkt anscheinend auch nur ganz bürgerlich und kindlich als moralische. Jedenfalls setzt sich die Frau ins Unrecht, wenn ihr die Anmache etc. nicht passt.

Das ist doch nicht schlimm.“

Weil es nur wahnsinnig nett gemeinte Beachtung war, auf die noch jede Frau immerzu scharf ist, ist es auch nicht schlimm – in den Augen des Täters. 

Wenn Kritik und abweisende Reaktionen dann damit begegnet werden, dass Frauen gesagt bekommen – „Als wenn ich was von dir wollen würde, so toll bist du auch nicht, sondern *setze eine Abwertung entlang weiblicher Attraktivitätsnormen ein*, sei also dankbar, du Schlampe!“ – dann bringt das die Stellung der Männer zu ihrem Tun auf den Punkt: Sie betrachten das nämlich als ihr Recht, das respektiert gehört. 

Wer das nicht respektiert, hat die „Zuwendung“ nicht verdient, ist ihrer eigentlich gar nicht würdig, weswegen die betroffene Frau eigentlich recht besehen froh über sie sein sollte. Und wenn sie das nicht ist, die Anmache also nicht würdigt, würdigt sie auch nicht den Cat Caller. Womit sie dessen männliche Ehre verletzt und sich den Titel „arrogante Schlampe“ verdient.

Kritik und Forderungen nach Unterlassung erfahren weiter die Vorwürfe entweder „überempfindlich“, „arrogant“ oder „aggressiv“ zu sein. In jedem Fall liegt also das Problem nicht beim Kritisierten und seinem Verhalten, sondern in der Frau, die sich zur Wehr setzt. Auf die Weise wird die Kritik oder Aufforderung zur Verhaltensänderung zurückgewiesen. Die zugewiesenen Attribute selbst verweisen dabei auf die Subsumtion der konkreten Frau unter das Geschlechterbild, nach dem Frauen sich zurückhalten und irgendwie immerzu lieb und zugewandt sein, also sich generell nach den Bedürfnissen und Anliegen anderer (v.a. Männer) richten sollen. Deswegen ist ein geäußertes Missfallen oder ein anderslautender Wille dann auch keiner, der irgendwie respektiert gehört, sondern eine fatale Übertreibung und männlich gesehen eine Frage von Unrespekt und Verletzung. So wird die Abwehr vom männlichen Übergriff vom Täter in einen Angriff verwandelt und die Sache vollends auf den Kopf gestellt. 

Cat Caller verlangen also für ihre Anmache eine (positive) Gegenreaktion. Wie selbstverständlich beanspruchen sie die Aufmerksamkeit von Frauen, behandeln sie als welche, die sich unmittelbar für sie zu interessieren hätten – als Frauen für sie als Männer.2 Die Anspruchshaltung zeigt sich nicht zuletzt daran, dass zu penetranten Mitteln gegriffen, die Aufmerksamkeit also erzwungen wird: Anhupen, solange Hinterherufen bis eine Reaktion kommt, Hinterherlaufen, Anfassen. Es ist mehr als die (ebenso) ungebetene Sexualisierung der vorbeilaufenden Frau in der männlichen Phantasie. Der Umstand, dass die Attraktion mitgeteilt und so lange schreiend oder wie auch immer wiederholt wird bis ihr Beachtung geschenkt wird, zeigt dass der Cat Caller darauf aus ist, dass ihm für die Anmache Beachtung geschenkt wird.3 Die Frau soll mitbekommen, dass er sie geil findet. Und das überlässt er nicht dem Interesse der jeweiligen Frau, sondern erzwingt es: Er verschafft sich die Aufmerksamkeit, nimmt sich – in seiner Vorstellung – also die Bestätigung.

In den Genuss der Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wird, kann außerdem hineinspielen, sich als mächtig zu erleben, dann nämlich, wenn es der Cat Caller gerade auf die Verunsicherung der Frau abgesehen hat: ihm also die mit dem Cat Calling vorgenommene Platzanweisung „Du bist für mich da und ich kann über dich verfügen, wenn ich will“ gefällt.

Bis hierhin wäre festzuhalten:

Cat Calling macht sich nicht vom Interesse des Gegenübers abhängig, es beansprucht einfach Aufmerksamkeit, Nerven und Raum von ihr. Die Gefallensbekundung wird ignorant gegen den Willen des weiblichen Gegenübers als eine erwünschte genommen, die deswegen auch umgekehrt auch mindestens positiv aufgenommen werden soll. Abweisung stellt sich für den Cat Caller als Ehrverletzung dar. 

Was ist da los?

Wieso gilt Cat Callern ihr eigenes Interesse an Frauen als ein Recht, das sie ihnen gegenüber haben? Wieso sehen sie sich beleidigt und zur Beleidigung oder Gewalt berechtigt, wenn dem nicht entsprochen wird?

Die Beantwortung der Fragen verlangt ein kurzes Ausholen zum verbreiteten willentlichen Bezug auf Sexualität und der bürgerlichen Unsitte des Selbstbewusstseins.

Der Stellenwert sexueller Befriedigung als Recht und die Einlösung männlicher Ehre

In der Welt von Marktwirtschaft und Demokratie soll jede*r ihres*seines Glückes Schmied*in sein – im eigenen Willen statt in den Mitteln, über die man verfügt und deshalb in der Konkurrenz um Schulnoten, Arbeitsplätze, Wohnungen oder Partnerschaften (etc.) zur Anwendung bringen kann, soll das persönliche Abschneiden in der allseitig stattfindenden Konkurrenz begründet sein. Obwohl sowohl Anzahl der Gewinnerpositionen (etwa Anzahl der Ausbildungsplätze oder zu besetzender Posten) als auch die Kriterien, nach denen über Erfolg oder Misserfolg entschieden wird, getrennt von den Konkurrent*innen feststehen, wird üblicherweise Gewinnen oder Verlieren derindividuellen Leistung der miteinander Verglichenen und auseinander Sortierten zugeschrieben. Diese Leistung übersetzen sich viele in eine Art Leistungsvermögen, das sie hätten und das sich an Erfolg oder Misserfolg zirkulär zeige. An Erfolg und Misserfolg wird dann der eigene Selbstwert genossen oder in Zweifel gezogen oder für nicht ausreichend gewürdigt betrachtet. 

In der Konkurrenz im Ausbildungs- und Berufsleben und all den davon abgeleiteten Lebensbereichen (etwa Wohnen, gesellschaftliches Ansehen etc.) bleibt es nicht aus, dass der Großteil der Bevölkerung die dauerhafte Erfahrung von Misserfolgen oder zumindest nur sich sehr bescheiden ausnehmenden Erfolgen (einen Job, der viel verlangt und wenig einbringt, eine Wohnung) macht. 

Hat man nun aber die Erlaubnis zur Betätigung in der Konkurrenz, also die bloße „Chance“ zum „Glück“, als so etwas wie ein Erfolgsversprechen genommen, stellen sich notwendig Enttäuschungen ein. Viele nehmen diese Erfahrungen nicht zum Anlass, sich ihre objektive Lage zu erklären, in der ihre Interessen nur mäßig bedient werden oder ganz auf der Strecke bleiben, sondern richten an ein anderes Feld – nämlich an ihr Privatleben und hier insbesondere das Liebesleben – den Anspruch, stattdessen für „Glück“ und Selbstbestätigung zu sorgen. Im Grunde wird hier ein Anspruch auf Kompensation erhoben, der keine der im „Restleben“ stattfindenden Beschränkungen abschafft oder irgendwie ungeschehen machen oder ausgleichen kann. Das Privatleben im Allgemeinen und das Beziehungsleben im Besonderen wird mit dem kaum zu erfüllenden Anspruch belegt, für die Kosten des marktwirtschaftlichen Alltags zuentschädigen. Insbesondere der Sex ist zum eigenen Feld des Glücks avanciert, soll also für etwas durchaus anderes herhalten als die gemeinsame Lust an- und miteinander. Ihn zu „haben“, gilt als Erfolg und wird damit dann auch zu einer Frage, an der sich bürgerliche Menschen – getrennt von allen wirklich in der Welt von kapitalistischer Wirtschaft und demokratischer Politik vorhanden Machtpositionen – ihre Leistungs- oder Erfolgsfähigkeit beweisen. Insofern(nicht einfach allgemein) geht es beim „Sex haben“ um die Bestätigung der Person, um ihren Selbstwert. Sex gilt – wie im übrigen auch andere Felder – als Möglichkeit das eigene Bild von sich als würdiger Person, der Erfolge doch irgendwie zustehen müssten gegen die Negativ-Erfahrungen des Alltags zu behaupten

Wo Sex diesen Stellenwert als Selbstbewusstseinsaufpäppelung hat, nimmt es kein Wunder das die Art und Häufigkeit des Sex zu einem eigenen Feld des Angebens werden. Sex wird als Verkörperung von Glück, auf das man sich ein Anrecht einbildet, zum Anspruch und ihn zu haben als Ausdruck der eigener Erfolgstüchtigkeit – für Männer heißt das, dass sie Sex regelmäßig zum Prüfstein und Beweis ihrer eigenen Männlichkeit erklären. Wo das eingebildete Recht und das Selbstbild eines zum Erfolg befähigten Männer zusammen kommen, ist der Übergang zum Übergriff angelegt: Sich gegen den Willen der Frau die Bestätigung des eigenen Selbstbildes verschaffen und darin genießen, dass man einer ist, der sich nimmt, worauf er sich einen Anspruch einbildet.

Verbreiteter noch als der tätliche Übergriff selbst ist die Kultur der Übergriffigkeit, in der Männer mit Blicken, Anmachen, Hinterherrufen usw. ggb. beliebigen Frauen ihr Selbstbewusstsein demonstrieren, ein zum Erfolg befähigter zu sein.4

Cat callenden Männern geht es also um sich: Sie wollen sich als welche darstellen, die sich Frauen verschaffen können– und das betrachten sie als ihr Recht. Wer das Cat Callen zurückweist, durchkreuzt die Selbstdarstellung von Männern, die sich am Material von Frauen gerade als Männer zeigen wollen, die sich nehmen können, was sie wollen und worauf sie meinen ein Anspruch zu haben: Die sexuelle Befriedigung und Bestätigung durch Frauen. Diese Selbstdarstellung als potenter Mann lässt sich insbesondere auch noch einmal in einer Gemeinschaft von (gleichgesinnten) Männern5genießen, vor denen man sich so beweist.6 Deswegen betrachten sie die Zurückweisung ihres eingebildeten Rechts auf die Frau als eine Ehrverletzung, durch die sie sich zu Beleidigungen oder Gewalttaten berechtigt sehen.

Insofern verweist die Kritik männlicher Übergriffigkeit auf eine Sorte Anspruchsdenken, die sich dem bürgerlichen Ansinnen verdankt, sich selbst und anderen die eigene Erfolgstüchtigkeit zu beweisen, sich also als ein würdiges Konkurrenzsubjekt darzustellen. Die Kritik des eingebildeten männlichen Anrechts auf Frauen verweist auf die Kritik des Mannes, der sich als bürgerliches Konkurrenzsubjekt aufführt, dass die Zwänge der Bewährung in der Konkurrenz in eine Herausforderung an sich und eine Frage seines Selbstwerts verkehrt. Insofern sind Macker ganz in den marktwirtschaftlichen Alltag eingepasste und zu ihm passende Ekel.

1In sogenannten „Konfrontationstrainings“ werden auch Angebote zur situativen Gegenwehr und Selbstbehauptung an betroffene Frauen gemacht: Siehe etwa den Podcast „You FM Einfach Nein!“

2Vgl. Verena Stefan, Häutungen, S. 85f.

3Das unterscheidet das Cat Calling von anderen Formen männlichen Angebens, wie dem Entblößen des mehr oder weniger trainierten, also „männlichen“ Oberkörpers in der Öffentlichkeit. Bei solchen Fällen ist der Betreffende auch auf Beachtung aus und genießt die Einbildung durch das auf sich Ziehen von weiblichen Blicken für besonders geil und männlich befunden zu werden. Hier macht sich ein Mann quasi zum Objekt der Begierde und genießt die eigene (eingebildete unwiderstehliche) Wirkung, die er aufs weibliche Geschlecht hätte – um sich darin ganz als geiles Subjekt vorzukommen, dass die Frauen in der Hand habe.

4Vgl. Gegenstandpunkt 4-19, Die Frau im Kapitalismus, S. 116

5Was für viele nach dem Motto „gemeinsam ist man stark“ die Hemmschwelle zu dieser Selbstpräsentation gegenüber Frauen auch nochmal herabsetzt.

6Vor der Männergruppe lässt sich auch beweisen, dass man selbst einer ist, der den Mut hat, Frauen „anzusprechen“, „es drauf hat“. Da diese Demonstration auf das Bild von sich als Mann bei anderen Männern abzielt, ist es – so gesehen – auch zweitrangig wie sich das Ganze für die betreffende Frau auswirkt.

Wenn freie Bürger*innen radikal werden

Zur ‚Logik‘ von Querdenkern, Coronaskeptikern und anderen Freund*innen der Freiheit

Der Staat schränkt auf Grundlage des Seuchenschutzgesetzes einige der bürgerlichen Grundfreiheiten ein und fordert damit den Freiheitswillen seines Volks heraus.

Angesichts sich entwickelnder Corona-Proteste zeigt sich die deutsche Öffentlichkeitt alarmiert: Wo sie bei einem Teil der Demonstranten durchaus sowas wie ‚berechtigte Sorgen‘ um die persönliche Zukunft oder das demokratische Leben in Zeiten einer Pandemie erkennen will, hält sie spätestens dystopische Vorstellungen vom Aufbau eines digitalen Überwachungsstaats, eines angeblich geplanten Impfzwanges oder geheimer Nutznießerschaften vom Corona-Notstand für ziemlich krude und spätestens dann die Beteiligung rechter Antisemit*innen oder Reichsbürger*innen für absolut gefährlich. Das Potpourri an auf den sogenannten „Hygiene-Demos“ vertretenen Vorstellungen und Deutungender „Corona-Krise“ gilt der demokratischen Öffentlichkeit jedenfalls im Grunde als ziemlich abwegig und unvernünftig.

Und unmittelbar ist die Annahme geheim verfolgter Kalküle ist angesichts überhaupt gar nicht verschwiegener, sondern täglich betonter Zielsetzungen des Lockdowns ja auch überhaupt nicht einleuchtend: Die Politik wirbt bei der Bevölkerung für die verhängten Kontaktbeschränkungen und Schließungen, mit der Absicht, die Ausbreitung der Covid-Seuche unter Kontrolle zu bringen und lockert sie, sofern sie für die Gesundheitsämter und die medizinische Versorgungslandschaft handlebar ist. In aller Öffentlichkeit wägt sie ab, wie viel Einschränkungen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens zugunsten des zeitweise höher angesiedelten Guts der Volksgesundheit als Voraussetzung eben dieser Wirtschafts- und Gesellschaftstätigkeit nötig und zumutbar sind. Angesichts dessen dass mit den verhängten Maßnahmen der gesellschaftliche Hauptzweck des wirtschaftlichen Wachstums massiv beschädigt wird, streiten sich die „Verantwortungsträger“ auch darum, wie schnell wieder zum „Normalzustand“ zurückgekehrt werden kann oder muss, betonen also durch die Bank ihren Willen zur Überwindung des verordneten Ausnahmezustands.

An diesen Debatten, dem Willen zum und den Wirkungen des Lockdowns ließe sich ja bestimmt einiges über Zoonosen, den Stellenwert von Volksgesundheit, Freiheitsrechten, kapitalistische Arbeitsteilung, Kredit und Staatsverschuldung lernen. Bei so einem (unvoreingenommenen) schlichten Interesse an Analyse belassen es die Anhänger*innen von Verschwörungstheorien aber nicht. Ihre Theorien betreiben etwas anderes, wenn sie der Frage nachgehen, was eigentlich „hinter“ dem „Corona-Wahnsinn“ steckt. Aus der subjektiven Voraussetzung, dass man z.B. meint, eine andere Einschätzung der virologischen Gefahr zu haben oder die Seuchenschutzmaßnahmen für unangemessen zu befinden, den Schluss zu ziehen, dass mit ihnen eigentlich was ganz anderes als Seuchenschutz betrieben wird statt zu erklären, worin der eigentlich besteht und auf was für eine Art von Gesellschaft der trifft, ist erdas Absprungbrett dazu, sich eine ganz eigene Welt hinter der wirklichen zu überlegen und für sie dann nach lauter Belegen in der Wirklichkeit zu suchen. Insofern leben die Verschwörungsideen gewissermaßen von der Gewissheit, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Zwar sind auch Verschwörungstheorien, Varianten sich die Welt oder die aktuelle Lage zu erklären und darin was anderes als bloßer Glaube. Und insofern sollte man sie bei aller z.T. augenfälligen Abwegigkeit, Konstruiertheit und in der Konsequenz bornierten oder brutalen Dummheit auch als Willen ernst nehmen, sich die Welt zurechtzulegen. 

Sie bloß für verrückt zu erklären, hilft eigentlich keinem, außer dem Selbstgenuss von Leuten, sich geistig überlegen zu fühlen. Sie einfach einem Faktencheck zu unterziehen und nachzuweisen, worin die Theorien selbst Missverständnissen aufsitzen, interessiert Zusammenhänge herstellen oder falsche Belege anführen, mag zwar zeigen, dass wiewidersprüchlich und gewollt sie sind, lässt aber offen, welcher Logik sie sich verdanken, in welchem Geist ihre Widersprüche also keine oder unwichtig sind und woher sie ihre Plausibilität gewinnen. Denn augenfällig ist ja schon, dass sie – unmittelbar abwegig oder detail-/belegreich ausgefeilt – z.T. auf ziemlichen Zuspruch stoßen, also irgendwie auf ein Bewusstsein treffen, das an ihnen ganz schön viel finden kann. Abgesehen davon, dass sich auf den sogenannten „Hygiene-Demos“ auch viel Protest sammelt, den es auch bereits vor Corona gegeben hat, soll hier mal gezeigt werden, auf welche leider sehr „normalen“ gesellschaftlichen Vorstellungen und Überzeugungen der „irrationale Unsinn“ so aufbaut und welcher Logik sich die verschwörungstheoretische Verweigerung gegen die „offiziellen Erklärungen“ verdankt.

0. Die Verordnungen zur Seuchenbekämpfung erlegen den Gesellschaftsmitgliedern lauter Einschränkungen und Sonderregelungren bei der Abwicklung ihres Berufs- und Privatlebens auf. Die Lebensbewältigung überlässt der Staat damit nicht mehr – wie scheinbar im Grunde sonst – einfach den privaten Entscheidungen seiner Bürger*innen, sondern macht ihr Vorschriften: Von der Sonderkonditionierung bis zur Unterbindung bestimmter Betätigungen schränkt er Freiheiten ein und stellt damit gründlich die Abwicklung des Erwerbslebens und der privaten Lebensgestaltung infrage.

1. Für Viele vergeht sich der Staat damit an seinem eigenen Auftrag, die Freiheit der Bürger*innen zu garantieren. Die Maßnahmen des Lockdowns gelten in der Perspektive dann nämlich als das pure Gegenteil dieser Staatsauffassung: Freiheitsentzug per Gesetz.

Für diese Perspektive braucht es allerdings ein gehöriges Maß an Ignoranz gegen den Lizenzcharakter der heiß verlangten Freiheiten: Jede Grundrechtsgarantie auf freie Berufswahl, Persönlichkeitsentwicklung oder Meinung (etc.)ist grundlegend eine Frage staatlicher Erlaubnis. Der Staat kommt nicht nachträglich als Schutzmacht ins Spiel, sondern überlässt grundsätzlich das Tätigwerden nicht dem individuellen Wollen: Die Freiheitsrechte hat man nicht einfach (z.B. von Natur aus als Mensch), der Staat gewährt sie. Aber auch die Beziehungen, die die Bürger*innen mit ihren Freiheitsrechten untereinander eingehen, sind Gegenstand rechtlicher Regulierung, also keineswegs einfach ihrer Willkür überlassen. Auf dieser Grundlage, die zwar gerne als eine Art staatlicher Dienstleistung namens Ordnung betrachtet wird, überlässt der bürgerliche Staat dann allerdings tatsächlich – im Rahmen der Gesetze – die Lebensführung dem privaten Kalkül. Ob man studieren will, wo man arbeitet oder wohnt und mit wem man wie die eigene Freizeit verbringt, ordnet nicht der Staat an. Hierzu verhält er sich in Bezug auf die Einzelne im Grunde gleichgültig, wie auch zu den Voraussetzungen und Mitteln, die sie hat, um ihre Interessen im „Wettstreit“ zu denen anderer zu verfolgen. Auf die Art – alle sollen unter Respektierung der jeweils gültigen gesetzlichen Regularien und der Freiheit anderer ihre Freiheit wahrnehmen – ergeben sich deswegen dann auch eine praktische Durchsortierung der Gesellschaft entlang der Frage des Verfügens über Konkurrenzmittel und somit allerlei Hierarchien. Der Freiheitsgebrauch der Einzelnen hat je nach Konkurrenzlage keine bis große Geldeinkünfte zum Resultat, die sich für den staatlichen Garanten und Betreuer des freiheitlichen Konkurrierens als nationaler Reichtum zusammenfassen, auf dem er seine Macht (aus)baut.

Weder ist Freiheit also etwas, das man einfach so hat, sondern immer eine Frage staatlicher Lizenz, so dass sie auch entzogen werden oder unter Bedingungen gestellt werden kann. Noch ist Freiheit einfach eine Dienstleistung eines allgemeinen Ordnungsstifters an seiner Gesellschaft, sondern die Art und Weise wie der Staat die Nützlichkeit der Gesellschaftsmitglieder für ihn ganz ihrem persönlichen Erfolgsstreben überlässt. Dass Freiheit nebenbei bemerkt auch nicht dasselbe ist wie die Befriedigung irgendwelcher Interessen, wissen die Demo-Teilnehmer*innen schon selbst, wenn gar nichts bestimmtes (kostenlose Gesundheitsversorgung oder so) fordern, sondern „ihre“ Freiheit. 

2. Als Entzugsanstalt für Freiheitsrechte genommen, gerät der Staat zu einem pur negativen Akteur gegenüber der Bevölkerung und ihrem Freiheitsdrang: Damit wird das absurde Konstrukt eines herrschaftlichen Willens zur puren Unterordnung in die Welt gesetzt, der im Grunde gar keine bestimmten Ziele aus sich heraus verfolgt, sondern nur unterdrücken will: Ein Machtapparat zur Kontrolle der Untertanen. So verdient er sich in den Augen so mancher Hygiene-Demonstrant*innen den Namen einer (drohenden) (Überwachungs-, Pharma-, Hygiene-)Diktatur.

(Darin die Frechheit, dass das eigene Volk den guten westlichen Staat wie einen der Feindstaaten im Osten oder Nahen Osten, schimpft.) 

Zwar kann man an der Macht zur Suspendierung ziemlich weiter Teile des ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens tatsächlich ablesen, wie viel Macht der Staat über seine Gesellschaft freier Individuen hat und wie sehr deren gesamtes Leben auf seiner Gewalt beruht, zwecklos wird sein Machtgebrauch darüber allerdings nicht. Und auch nicht dann, wenn er mit ihr das sonst beförderte freiheitliche Leben und Konkurrieren einschränkt, um das derzeit bedrohte Gut der Volksgesundheit zu schützen. Zwar mag die Unterordnung des Hauptzwecks des bürgerlichen Regierens unter seine Bedingung – eine halbwegs intakte gesundheitliche Funktionsfähigkeit des regierten menschlichen Inventars – ein schwer zu verdauender Widerspruch sein, aber ein bloß abstrakter Wille zum Herrschen bricht sich hier jedenfalls nicht Bahn.

Auch in dieser Kritik zeigt sich ein sehr grundsätzliches Einverständnis mit der bürgerlichen Ordnung, welches jedoch derzeit grundlegend erschüttert wird: Wo Deutschland bislang zumindest im Grunde und im Vergleich zu afrikanischen, nahöstlichen, osteuropäischen, asiatischen und süd- und nordamerikanischen Staaten, also alle anderen als lebenswerterErmöglicher von lauter Entwicklungsperspektiven (wenn man es denn nur ernst genug mit dem Lernen, Wollen und Anstrengen meint) und Immerhin-Sozialstaat galt, rangiert es politmoralisch mit dieser Umettikettierung auf einmal auf derselben Ebene mit ihnen: Als Herrschaft. Hieran fällt auf, dass die rechtsstaatlich-demokratische Art und Weise des Regierens eben gar nicht schlicht als spezifische Methodik des Herrschens über Land und Leute betrachtet wird, sondern im Grunde als ihre Abwesenheit: So wird das Ideal vom Rechtsstaat gepflegt, demnach er sich a) ohnehin vor allen Dingen in Respekt und Zurückhaltung seiner Bevölkerung und ihren Rechten gegenüber übe und b) für den Schutz ihrer Interessen bereit stehe, also seine Machtausübung über die Bürger*innen nur so etwas wie eine institutionelle Dienstleistung an ihnen sei.

An das objektive Verhältnis von Rechtsstaat und Bürger sowie die Selbstpräsentation der Ordnung als dem Volke verpflichtete knüpfen die Demonstranten dabei an:

Objektiv gewährt der Staat Rechte, weil er sich etwas von der privaten Wahrnehmung der Rechte verspricht/scharf ist auf die Betätigung der Leute als Privateigentümer*innen. Wo die Bürger*innen von der Gewährung und Wahrnehmung der Rechte in ihrer Lebensführung abhängen, entdecken sie die Bindung der staatlichen Gewalt. Und tatsächlich bindet sich der Rechtsstaat ja auch an sein eigenes Recht und eine gewisse Grundordnung, um so seinen in die Freiheit entlassenen Privatsubjekten eine verlässliche Kalkulationsbasis zu bieten und seinen herrschaftlichen Betrieb nicht der privaten Willkür bzw. den partikularen Interessen des jeweiligen Herrschaftspersonals auszuliefern. Was allerdings als eine quasi interesselose Ordnungsfunktion gilt, ist damit nichts anderes als die Sicherstellung der Bedingungen des allgemeinen Konkurrierens.

Dass der Staat Leuten in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Rolle Rechtsansprüche gewährt und ihre Wahrnehmung fördert, nehmen die Demonstranten als Dienst an ihren unmittelbaren Interessen (die sie anscheinend gar nicht mehr anders als als „Recht auf“ kennen).

3. Am (partiellen) Freiheitsentzug machen die Demonstranten die Verletzung der Dienstpflicht des Staates bzw. der Politiker*innen gegenüber seinen bzw. ihren Bürger*innen fest. Die Qualifizierung der Unterordnung sämtlicher gesellschaftlicher Zwecke unter den Schutz der Volksgesundheit als Diktatur schließt die andere Seite ein, dass dann die Bürger*innen auch keine mehr, sondern bloße Untertanen sind: Objekte herrschaftlicher Willkür.

Das ist eine harte Nuss in mehrfacher Hinsicht:

3.1 Sich selbst sehen sie damit massiv in ihrem Selbstbild gekränkt: Statt als freie Bürger*innen fühlen sie sich als Sklaven behandelt: Ihnen werden „auf einmal“ Vorschriften auferlegt. So wird die Maskenpflicht für manche etwa zum Symbol für einen alles beherrschen wollenden Staatswillen, der in ihre körperliche Unversehrtheit eingreift und sie zum Objekt degradieren will: „Eine beispiellose Übergriffigkeit in unsere intimsten Lebensbereiche. So etwas hat es seit der Abschaffung der Leibeigenschaft nicht mehr gegeben. Eine vorsätzliche Körperverletzung zudem.“ „Unser Wille soll gebrochen werden.“ „Viele Maskenträger schauen gebrochen und verschämt zu Boden. Nach dem Lockdown kommt nun der Lookdown. Die ganze Körperhaltung ist gebeugt.“ (https://www.das-marburger.de/2020/04/vom-lockdown-zum-lookdown-von-der-zwangsdemuetigung-durch-rotzmasken/)

An diesem exemplarischen Aufschrei eines noch selbstbewussten, aber nicht mehr ganz so freien Bürgers zeigt sich ein anerkannter, notwendiger Wahn in der bürgerlichen Gesellschaft: Wer frei ist, ist sein eigener Herr und verfügt exklusiv und autonom über sich und seine Lebensverhältnisse. Zwar ist nicht zu leugnen, dass der Mensch als freier Bürger das Recht an sich zugesprochen bekommen hat, also seine Versklavung oder sonstige Unterjochung durch andere gesetzlich untersagt ist und damit seine Lebensführung auch nur in seine Obhut fällt. Allerdings entspricht die Realität der meisten Menschen nicht dem darauf gründenden Selbstbild damit auch souverän über die eigenen Lebensumstände zu verfügen: Nahezu sämtliche Lebensbedingungen sind Produkt der rechtlichen Verfügungen eines Gewaltmonopols sowie der darauf gedeihenden kapitalistischen Konkurrenz- und Abhängigkeitsverhältnisse. Die Freiheit der Person besteht im Grunde darin, Waren, über die sie exklusiv als ihr Eigentum verfügt, in Konkurrenz gegen andere zum Mittel des persönlichen Gelderwerbs zu machen. Da die einzig substanziell verfügbare „Ware“ für den Großteil der Menschen in der Befähigung zur Verrichtung mehr oder minder spezialisierter Dienste besteht, hängt die selbstbestimmte Lebensführung schon ganz grundlegend von einem anderen Interesse ab, das die angebotene Dienstbarkeit in Anspruch nimmt und bezahlt, um sich an ihren geldwerten Resultaten zu bereichern. Da das auch seine Konjunkturen hat, ist nicht einmal die Sicherheit dauerhaft erneuerbarer Einwilligung zum Dienst am Geschäftserfolg anderer zu haben. Der Rest vom Leben, der nicht darin aufgeht, richtet sich in der Regel aber danach – insbesondere dann, wenn sich das eigene Angebot als Überangebot erweist: Denn Geldeinkünfte für die Ausgestaltung des Rechts auf Selbstverwirklichung entfallen dann ja. Etwas schräg zur grundsätzlich abhängigen oder ohnmächtigen gesellschaftlichen Position und ihren Konjunkturen bzw. „Rückschlägen“, aber passend zum Umstand, dass nichts anderes als der eigene Wille zur Leistung verfügbar ist, gehört es zur Identität des freien bürgerlichen Subjekts, Macher der eigenen Verhältnisse (Erfolge wie Misserfolge) zu sein: Zumindest insofern als sich ja niemand anderes als es selbst sich „für sie“ „entschieden“ hat. Insofern bewahrt sich die freie Subjektivität ihre Freiheit im Prinzip, indem sie sich als Souverän der eigenen Entscheidungen und (damit ideell autonom gegen die oder ideell verantwortlich für die) vorgefundenen Lebensverhältnisse weiß (und wenn es am Ende auch nur die ‚realistische‘ Resignation sein sollte, dass man jedenfalls wisse, was einem ‚das Leben‘ zu bieten habe – und was nicht). Kurz: Dass die Freiheit der meisten freien Bürger*innen wesentlich in der Anpassung an eine vorausgesetzte Rechtsordnung und an die Verwertungsansprüche von Kapitaleigner*innen besteht, zeigt sich zwar beständig an den Schwierigkeiten, den Verhältnissen private Erfolge und Sicherheiten abzuringen, darf aber deswegen auch umso weniger so gesehen werden. Wie ließe sich sonst weiter zurecht kommen? / Was wär dann die Freiheit noch wert?

3.2 Deswegen ist es kein Wunder, wenn sich der Protest auch an der Stelle festmacht, wo es um die privatesten Bereiche der Verfügung über sich selbst geht: Den Körper, die eigenen Daten und die eigene Meinung (und das „eigene“ Grundgesetz). Im Sinne von „Abwehrrechten“ gegen einen übergriffigen Staat bestehen die Demonstrant*innen auf ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit (gegen vermeintlich geplante Zwangsimpfungen), auf ihrem Recht auf Privatheit ihrer Persönlichkeitsdaten (gegenüber einem trügerischen Sicherheitsgefühlt durch Installation einer Corona-App) und auf ihr Recht auf freie Willkür und ihre Veräußerung (gegen eine vermeintliche Gesinnungsdiktatur von Politik und Medien).

Auf die letzten Residuen bürgerlicher Selbstbestimmung wird bei aller zuvor und nebenbei praktizierten Bereitschaft zur Anpassung an fremdbestimmte Verhältnisse bestanden. Denn dieses doppelte Verhältnis von Opposition und Unterordnung ist durchaus in der Idee der „Abwehrrechte“ enthalten: Die staatliche Gewalt und ihre Regelungskompetenz an sich, ist akzeptiert (und im Grunde auch begrüßt zum Schutz der eigenen Freiheit vor Übergriffen anderer), wenn die Garantie von Rechten bzw. staatliche Zurückhaltung gefordert wir. Die damit einhergehende prinzipielle Ohnmacht ist abgehakt, sofern sich der Staat aus dem Umkreis der Privatsphäre raushält.

Abgesehen vom unmittelbar physischen Stellenwert der Kontrolle über den eigenen Körper und dem Umstand, dass ein Gutteil der bürgerlichen Existenz digital stattfindet und sich dort in ähnlichen Interessengegensätzen bewegt wie im ‚real life‘, hat die Privatssphäre auch deshalb einen besonderen Stellenwert für die bürgerliche Existenz, weil man sich hier im Unterschied zur Arbeitswelt oder im Kontakt mit Ämtern oder der Straßenverkehrsordnung als tatsächlich sowas wie selbstbestimmt erlebt (Konsumwahl, freiwillig eingegangene Sozialkontakte, Freizeitaktivitäten, Informationsbedürfnis und Gedankenmitteilung). Zwar ist auch diese Sphäre nicht jenseits staatlicher Regulierung und direkte Eingriffe sind im Falle dysfunktionaler Privatlebensgestaltung auch rechtlich vorgesehen, aber im Prinzip hält sich der Rechtsstaat hier raus und sagt: Das ist euer Reich, hier braucht und soll es euch nur um euch gehen. Zwar merkt man den finanziellen, zeitlichen und gesundheitlichen Beschränkungen, die diese Sphäre notorisch unterliegt an, auf welcher prekären Grundlage sie meist nur zustande kommt und dass sie im Grunde gar nichts anderes als das halbwegs funktionale Aushalten der Ansprüche des Berufslebens leistet, aber behandeln und zurechtlegen tut man es sich genau anders herum: Die Arbeitswelt ist Mittel für das wie auch immer gestaltete eigene Privatleben. Die Sphäre des Privaten ist also neben der hier abgewickelten physischen und psychischen Reproduktion auch weltanschaulich enorm wichtig, denn hier darf sich das bürgerliche Subjekt beweisen, dass es in diesen Verhältnissen tatsächlich nur um sich selbst geht, seine Anpassung an sie also ein lohnenswertes Unterfangen bleibt.

4. Die Frage nach dem Grund der Pflichtvergessenheit der Amtsträger*innen gegenüber ihrer Bevölkerung drängt sich auf und kann eigentlich nur so beantwortet werden: Sie dienen keinem Allgemeinwohl (mehr), sondern irgendeinem privaten.

Sofern nicht bei der leeren und selbstzweckhaften Freiheitsberaubung um der Unterdrückung willen, stehen geblieben wird, stellt sich die Frage nach dem Interesse, dem die Volkskontrolle dient, denn eins ist klar: Wer das Volk an seiner freiheitlichen Betätigung hindern will, der dient ihm nicht mehr, sondern will es für seine eigenen Zwecke einspannen.

Der grundlegende Zweifel – wie sehr sind Politiker*innen eigentlich der Allgemeinheit und wie sehr ihren eigenen Interessen und/oder denen starker Interessengruppen verpflichtet – begleitet das Funktionieren der Demokratie: 

Als Volksvertreter*innen und Amtsträger*innen obliegt ihnen die Durchsetzung des Volks- oder Allgemeininteresses. In einer Gesellschaft von Konkurrenten, gibt es das nicht als eigenständiges, unmittelbar vorfindbares Interesse. Es ist immer eine Frage der politischen Definition und gibt es damit nur als Vorschrift für die Gesellschaftsmitglieder, die sich regieren lassen. Es besteht allerdings nicht in der einseitigen Privilegierung bestimmter gesellschaftlicher Konkurrenzinteressen, sondern in der dauerhaften Befähigung der gegensätzlichen Interessen zur Teilnahme an der Konkurrenz (Rechte für Mieter und Vermieter, Unternehmen und Beschäftigte, Banken und ‚Realwirtschaft‘, Wettbewerb usw.). 

Angesichts dessen, dass es von Staats wegen um die Betreuung der Konkurrenz geht, ist die beschlossene Gesetzgebung nicht mit einem Interessenausgleich zu verwechseln (irgendeinem Interesse nutzt eine Gesetzgebung natürlich immer mehr während sie seinem Kontrapart weniger nutzt oder es stärker einschränkt) und auch nicht mit der Herstellung von Waffengleichheit. Da sich jedoch die Konkurrenz um den Erfolg der privat organisierten Geldvermehrung dreht, und vom Erfolg des Wachstums der Privatunternehmen tatsächlich die gesamte Gesellschaft abhängt (vom Arbeitsplatz, über die Nachfrage nach Gewerberaum bis zu den staatlichen Steuereinnahmen), ist das Interesse Kapital zu vermehren im Grunde prinzipiell allgemeinwohldienlich. Die Regentschaft über einen nationalen Kapitalismus mit seinen ökonomisch mehr oder minder eindeutig nach Klassenlagen verteilten Machtpositionen, mit seinen Versorgungsunternehmen, mit seinem Kreditgeschäft, mit seinen Schlüsselindustrien oder wichtigen Spezialbranchen und dem Interesse am Erfolg von all dem in der internationalen Konkurrenz der Standorte, lässt immer wieder den Zweifel aufkommen, ob nicht Gesetze einseitig zum Vorteil ökonomisch bedeutsamer Interessengruppen formuliert oder angewandt werden. Und gerade im Interesse des Dienstes an der Konkurrenz und ihren Erfordernissen ruft der Gesetzgeber ja auch zur Lobbyarbeit auf. Dass wichtige Unternehmen oder Branchen angesichts ihrer Bedeutung für den gesamten Standort besondere Rücksicht erfahren, ist deswegen weder ein Wunder noch ein Verstoß: Der nationale wirtschaftliche Gesamterfolg per Wachstumsrate in stabiler international als Geschäftsmittel anerkannter Währung, um den es dem Staat als Akteur geht, wird nunmal (auch) von denen bewerkstelligt. D.h. umgekehrt nicht, dass nicht auch große Unternehmen manchmal Einschränkungen in Kauf zu nehmen haben (siehe Diesel-Strafen). 

Die Betreuung der Konkurrenz durch den Staat als Gesamtkonkurrenzerfolgsanwalt fördert also notwendig den falschen Zweifel in den zu großen Einfluss von Lobbygruppen. An dieses Misstrauen können die Protestierenden anknüpfen, wenn sie fragen, wieso die Realität von dem Allgemeinwohl abweicht, dass sie sich vorstellen.

Wer die Corona-Krise dann für einen Schachzug der Pharmalobby oder ein Manöver hält, Kleinhandel und Mittelstand zu verdrängen, könnte sich aber schon fragen, ob nicht die Riskierung einer weltweiten Rezession und Beschädigung sämtlicher Geschäftsbedingungen durch die Lahmlegung aller möglichen Zahlungsketten im Wirtschaftsleben ein etwas zu massives Risiko für eine partikulare Geschäftsstrategie darstellt, die ja selbst auf ein zahlungsfähiges Wirtschaftsleben angewiesen ist.

Ein zweiter immerwährender Zweifel in die Allgemeinwohldienlichkeit der Politik verdankt sich der Personalpolitik der Demokratie: Mit ihrer periodischen Neubesetzung der politischen Ämter, institutionalisiert sie mit der erneuerten Legitimation auch den Zweifel ins Herrschaftspersonal selbst: Gerade weil es im Interesse der Staatswohls und nicht dem eigenen entscheiden soll, hat es ein Amt auszufüllen, das bereits weitgehend vorgibt, worum sich welches Ressort zu kümmern hat. Und weil der Widerspruch bleibt, dass der Staat keinem besonderen Interesse verpflichtet sein soll, allerdings von einzelnen Personen geführt werden muss, sieht die Staatsverfassung auch eine Teilung der staatlichen Gewalt in Unterabteilungen und die Gesetzgebung Amtsenthebungsverfahren bei Machtmissbrauch und Strafen für Korruption vor. 

Zusätzlich bebildert das alte Märchen zur Entstehung des Staates die Notwendigkeit zur Regentschaft des Allgemeininteresses gegen die partikularen gesellschaftlichen: Die Story von der egoistisch-böswilligen Menschennatur, die sich gegenseitig fortwährend nur Missgunst, Mord und Diebstahl antut, also gar kein dauerhaftes gesellschaftliches Leben aufkommen lässt, sich aber glücklicherweise zum Staat emporgehoben hat, um als solcher den einzelnen Egoisten mores zu lehren, so dass Frieden, also allgemeines sittsames Konkurrieren einkehrt. Diese alte Rechtfertigungslehre vom bürgerlichen Staat ist in der ein oder anderen Form in den weltanschaulichen „Erfahrungsschatz“ eines Gutteils der Leute übergegangen: Mit der Schlechtigkeit und Asozialität der Menschen kann man sich dann nicht nur altklug Konkurrenzmanöver der Mitmenschen „erklären“, sondern auch ein ordentliches Misstrauen in die Politiker*innen pflegen, die am Ende auch nur an sich denken, wenn sie einmal „da oben“ sind.

Das Dasein des Staates als so etwas wie das Allgemeininteresse der Konkurrent*innen, das auch alle Kontrahent*innen als Interesse an Ordnung und Beschränkung der anderen Konkurrenzteilnehmer*innen haben, produziert bei den dem Gesetz untergeordneten Konkurrenzteilnehmer*innen notwendig Misstrauen ins Staatspersonal und die Regierung. 

Allenthalben auftauchende Fälle/Skandale tatsächlicher Bestechung, Vetternwirtschaft oder zu eindeutig abgeschriebener Lobbyentwürfe, bestätigen dieses Misstrauen und sind selbst ein Anknüpfungspunkt für die Ideen von zwielichtigen Hintergrundinteressen am Corona-Notstand.

5. Die „Ursachenforschung“ geht dann auf die Suche nach Schuldigen, nach geheimen Drahtzieher*innen, denen die Freiheitsberaubung und Unterdrückung umgekehrt einen Nutzen verschafft: „Cui bono?“ 

Worin genau der Nutzen dann besteht und wem konkret all das letztlich so nutzt, ist an sich zweitrangig. Hier sind der Phantasie im Grunde keine Grenzen gesetzt und die Verschwörungstheoretiker*innen erweisen sich da bei aller absoluten Gewissheit von der „Wahrheit“ ihrer Aufdeckungen als erstaunlich Pluralismus geeignet. Entscheidend ist allerdings der Gehalt dieser Sorte „Aufklärung“: Die Regierung dient nicht dem Volk, sondern einem fremden Interesse, es gibt also Schuldige, die sich gegen die wie auch immer grundrechtemäßig oder völkisch oder ökologisch definierte gute Gemeinschaft verschworen haben, um sie sich auf die eine oder andere Art und Weise dienstbar zu machen: Diese Drahtzieher*innen verfolgen irgendwelche partikularen Interessen, die sie gegen die und mittels der Bevölkerung durchsetzen wollen. Ob es sich dabei um ein Interesse an schnödem Mammon, ein Kalkül zur Einführung weltweiter digitaler Überwachsungstechnologie (per Impfkarte) oder um bezweckte Gedankenkontrolle per Zwangsimpfung handelt – letztlich läuft all das wieder auf ein ziemlich abstraktes und begriffsloses Machtinteresse hinaus: Eine an sich gute und in sich harmonische Gemeinschaft sieht sich einem ihr quasi wesens-‚fremden‘ übermächtigen, partikularen Beherrschungswillen unterworfen.1

6. Die Negativität des partikulären Egoismus gegen die gute Gemeinschaft und seine dementsprechende Fremdheit zu ihr begründen schlussendlich die Bösartigkeit der Verschwörer*innen. Nicht zuletzt offenbart sich der boshafte Charakter der Verschwörung dadurch, dass sie eine ist: Wer seine „wahren Absichten“ immerzu geheim halten, vertuschen, Mitmacher*innen manipulieren oder Verantwortliche bestechen muss, kann nichts Gutes im Schilde führen. So zeigt sich bereits an der Nichtöffentlichkeit der Absicht woher sie kommt und wie so zu beurteilen ist: Ziemlich düster.

Wie abwegig und dumm oder brutal dieses ‚Theoretisieren‘ auch ist: Die Schuldsuche selbst ist ein weit verbreiteter Denksport in der Demokratie.

Besonders beliebt ist sie natürlich bei Faschist*innen, die in der aktuellen Demokratie gedeihen, weil sie sich von der aktiv betriebenen Ursurpation aller Deutschheit und deutschen Interessen seitens einer derzeit herrschenden Führungselite überzeugt haben. Für diese Fans staatlicher Gewalt, Ausgrenzung und brutaler nationaler Bornierung ist der Corona-Notstand dann nur ein weiterer Beleg für den Bau am deutschen Untergang. Jedoch nicht nur Populist*innen und Faschist*innen, sondern auch vorbildliche Demokrat*innen halten die Frage nach den „politisch Verantwortlichen“ für die entscheidende Frage bei der Debatte über nationale Missstände, Misserfolge und Unzufriedenheiten aller Art: Mit irgendeiner Sorte Analyse, die nach den herrschenden gesellschaftlichen Prinzipien und Interessen fragt, denen sich etwa Altersarmut, Wohnungsnot, Polizeigewalt oder Sexismus verdanken, hat diese Frage nichts zu tun. Schließlich ist mit der Verschiebung der „Ursachenforschung“ auf die Frage nach ‚Schuldigen‘ und ‚Verantwortlichen‘ ja quasi vorentschieden, dass beanstandete Umstände an „Fehlern“ oder auch „bösen Willen“ von besonderen, entscheidenden Personen, also an falscher Führung, liegen müssen. Mit dieser Fahndung nach persönlicher Haftung kündigt sich auch der Grund für die in der Demokratie beständig betriebene Anprangerung von Missmanagement, Führungsschwäche, Inkompetenz, Verantwortungslosigkeit oder eben ganz hart Verrat an: Die demokratische Institution der Opposition wirbt über den Vorwurf der „Pflichtverletzung“ in der Öffentlichkeit für sich als die befähigtere Führung. So ist in der Demokratie gesellschaftlicher Unzufriedenheit und Kritik der Weg gewiesen: Vertrauen auf die nächste Führungsriege (und begründete Kritik an den Zwecken des Regierens und des zivilen Miteinanders, das da so kompetent angeleitet wird, jedenfalls ausgeschlossen). In der Kunst der Schuldsuche erlernt noch jede demokratische Untertanin die gewohnheitsmäßige Bornierung ihres Verstandes auf ein Interesse nach ordentlicher Herrschaft. Und eben dieses Interesse an guter Herrschaft – nur garantiert impf-, und wenn möglich judenfrei – treibt derzeit seine dummen bis für einige Personengruppen gefährlich werdenden Blüten. 

Dass der (auch im Zuge der Corona-Krise) grassierende Antisemitismus kein Aufruf zur Herrschaftslosigkeit ist, ist wohl allen klar. Die Suche nach „Schuldigen“ und „Verrätern“ ist schon immer die patriotische Art und Weise der Abfindung mit Verhältnissen gewesen, denen irgendeine Sorte Unbekömmlichkeit attestiert wird – nur um jeden Zusammenhang mit eben diesen Verhältnissen sofort zu leugnen, indem sie Fehlverhalten, bösem Willen oder einer übermächtigen „fremdartigen“ Aggression zur Last gelegt wird.

7. Auf die Ausfindigmachung der Schuldigen folgt die Forderung ihrer Bestrafung. Auch hier tobt sich der Wille nach ordentlicher Herrschaft in seinem Drang, die Bösen, Schädlichen zur Rechenschaft zu ziehen aus – Ken Jepsens Phantasien umfassen z.B. folgenden Mix an staatlicher Gewaltanwendung: Untersuchungsausschuss und Freiheitsentzug für die Politiker*innen in Regierung und Opposition, die den Corona-Kurs mittragen, Enteignung und Bestrafung für das Gates-Ehepaar, Säuberung der Presselandschaft, die derzeit ja nur Regierungspropaganda weiterreiche und vernünftige demokratische Zweifel wie seine eigenen verunglimpfe. Derart gesäubert und auferstanden lässt sich dann wieder ein ordentlicher Staat machen, wo die Politik garantiert nur dem Volksbedürfnis nach einer Herrschaft dient, die kein partikulares Interesse bedient, also rücksichtslos ein Staatsprogramm definiert. Damit wäre die ersehnte Einheit von Volk und Staat wiederhergestellt und im Prinzip die Utopie einer „anderen Welt“ fast verwirklicht. Damit die dann auch so bleibt, kursieren auch lauter Vorstellungen direkter Demokratie oder demokratischer Kontrolle der Wirtschaft, so dass kein (mächtiges) Privatinteresse mehr die Gesellschaft „kapern“ kann.

Dass die (Miss-)Achtung staatlicher Ordnung und die Verwirklichung von Gerechtigkeit nach Gewalt und Unterordnung verlangen, soll in der Demokratie auch allen eine Selbstverständlichkeit sein. Ein Anlass zur Frage nach dem Charakter einer Gesellschaft, deren Leistungsfähigkeit sich ausgerechnet in der Unterordnung von Abweichlern, Rechtsbrechern, Pflichtschuldigen, ‚Fremden‘ oder Gegner*innen beweist, wird dabei jedenfalls nicht gesehen. Auch hier erweist sich der demokratische Normalzustand als gute Schule für die liberalen Sitten, die jetzt ihr Recht auf Wut und Phantasie in Anspruch nehmen.

Das Volk hat den Anspruch, dass die Ordnung für seine Notwendigkeiten des Zurechtkommens und seine Lebensgestaltung eingerichtet ist und sieht die Politik in der Pflicht, dafür Ordnung und Rechte bereit zu stellen. 
Schon im Normalzustand, der Vielen als abhängig Beschäftigten, Mieter*innen etc. Belastungen und Misserfolge beschert, wird wider die Erfahrung an der Überzeugung festgehalten, dass die Verhältnisse im Prinzip für ein gelungenes Erwerbs- und generelles Leben taugen könnten, wenn nicht ständig falsche Politik betrieben würde. Die besonderen Einschränkungen des Lockdowns, die die Protestierenden gar nicht mehr verstehen wollen, und gleich nur noch als abstrakten Willen zur Freiheitsberaubung ansehen, lässt in ihnen die Überzeugung aufkommen, dass die Politik nicht mehr nur mangelhaft ihre Aufgaben erfüllt, sondern gar nicht mehr: Statt Dienst am Volk, hat die Regierung ihr Volk verraten. Demgemäß dient sie als Unterdrückungsanstalt des Volkswillens zur Freiheit gar nicht mehr den Interessen der Gemeinschaft, sondern muss einem gemeinschaftsfremden Interesse dienen. Das macht die Regierung endgültig zur Unterdrückungsinstanz, weil sie so als eine Quasi-Fremdherrschaft (Gates, Juden, US-Elite, Außerirdische) entlarvt ist. So einer Herrschaft, die „in Wahrheit“ gar nicht die „eigene“ ist, gehört dann die Gefolgschaft aufgekündigt. Sie verdient Widerstand, dessen Ziel freilich in der wieder zu erlangenden Einheit von Volk und Führung besteht: Der volksdienliche Staat ist der, dem auch das Volk gehorcht. 

8. Der Ottonormal-Verschwörungstheorie-Club kann sich – bei allem Sendungsbewusstsein im Gestus des Warners – gewissermaßen auch damit zufrieden geben, selbst den Durchblick zu haben, auch wenn die Verschwörung weiter im vollen Gange oder das Verbrechen noch nicht gesühnt ist. Zumindest lässt sich jetzt schon der Lohn des Gefühls von Wahrheit, echter geistiger Freiheit und Überlegenheit gegenüber der Welt und insbesondere gegenüber der sich täuschen lassenden Schafsherde genießen. Demgegenüber entwickelt der Anti-Corona-Protest ein veritables Bedürfnis nach Mobilisierung von Volkswiderstand: Dem Staat, der dem Volk und seiner Freiheit dient, gebührt Gefolgschaft. Tut er das nicht, ist der Staat eine illegitime Herrschaft und die freie Bürger*in in der Pflicht zum Widerstand. So werden die Demonstrant*innen mit „ihrem“ Grundgesetz unter‘m Arm aus lauter Staatsbürgerbewusstsein glatt zu Staatsgegner*innen und zum Ärgernis für die Staatsmacht.

Die Tour falscher Kritik, den Staat bzw. das Herrschaftspersonal immer nur an seinen eigenen Idealen und Maßstäben zu messen, also einiges an der politischen Wirklichkeit und der verlautbarten Erklärungen dazu zu ignorieren, haben die Freund*innen von Alu-Bommel und Grundgesetz, definitiv gelernt. Sie sind so beherzt in ihrem Glauben an die Güte der freiheitlichen Rechte, dass sie glatt den Glauben an den aktuellen Staat zu verlieren drohen.

9. Die Staatsverantwortlichen sehen sich einem größer werdendem Haufen von teils sich radikalisierenden Verteidiger*innen des Normalzustands von vor einigen Monaten, teils im Resultat – gegen Hinweise auf den offenkundigen Quatsch ihrer „Theorien“ und Annahmen immun gewordener – Verrückten und einem weiter wachsenden Pool organisierter Reichsbürger*innen und Rechtsradikaler gegenüber. Ersteren wollen sie die prinzipielle Berechtigung ihrer ‚Sorgen‘ nicht absprechen (die Politik will ja selbst so schnell wie möglich zum Normalbetrieb zurück und sie weiß ihre Verordnungen schließlich auch als den Grund für die Einschränkungen, an denen sich ihr zur Freiheit erzogenes Volk z.T. so sehr aufrührt). Klar machen müssen sie ihnen und v.a. Zweiteren aber auch, dass nicht jede wirre Meinung Recht auf Geltung hat – und zwar jede*r ein Recht auf eine eigene Meinung, aber jedenfalls nicht auf eigene Fakten hat: So will die Politik den Protest, der von einer Unterscheidung von links und rechts nichts wissen will, auf ihre Art spalten, indem sie mahnt: Folgt nicht den Extremist*innen und Verschwörungsanhänger*innen von links und rechts (und tragt lieber Masken als Alu-Hüte), wenn ihr doch eigentlich nur um die Freiheitsrechte besorgte Bürger*innen seid. Letzteren gegenüber sieht sie sich einmal mehr in der Verantwortung, ihre Maßnahmen zu erklären, auf dass bei ihnen ankommt, dass die Verantwortlichen jedenfalls nicht leichtfertig und derzeit ja gerade wegen des Dienstes am Volk bzw. seiner Gesundheit den gesellschaftlichen Normalbetrieb umstellen – um zum Normalbetrieb zurückkehren zu können, womöglich gestärkt durch die Corona-Phase, die bei allen Entbehrungen aber doch auch eine Phase der nationalen Solidarität und Anstrengungen ist.

1Kein Wunder, dass sich der Club der Verschwörer*innen auch oft als ausländische (vorzugsweise US-Elite) oder irgendwie aus dem Nationalen aussortierte (vorzugsweise ‚Juden‘) Gruppierung vorgestellt wird.

Fußball-EM – ein nationales Stelldichein

1. Es geht um Deutschland:

1.1 Bei der Fußball-WM/EM handelt es sich nicht um einen bloßen sportlichen Wettkampf, der ganz unpolitisch ist. Denn: Nicht unterschiedliche Teams treten sich im sportlichen Spiel gegenüber, sondern Nationalmannschaften. Die Mannschaften repräsentieren also Nationen, im sportlichen Wettbewerb treffen dementsprechend Nationen aufeinander: Deutschland spielt dann eben gegen England. Und genauso wird das auch von den Fans verstanden. Sie sind dann nicht einfach begeistert für die Sportart und den Nervenkitzel beim Spiel und drücken einer Mannschaft die Daumen, sondern „Deutschlandfans“, sie feuern dann auch nicht einfach die Spieler an, denen sie Glück wünschen, sondern unterstützen „unsere Jungs“. Sie begreifen sich als ein großes Wir und die gegnerische Teams inklusive Fananhang als „die Anderen“, die es zu „besiegen“ gilt.

Weil eben die Nation über das Fußballspiel repräsentiert wird, sind auf einmal eben auch Leute begeistert für ein Spiel, für das sie sich sonst nicht interessieren. Weil es um den Erfolg der Nation geht, ist für die Zuschauenden die Anhängerschaft zur deutschen Mannschaft dann auch selbstverständlich.

1.2 Länderspiele wie die der EM/WM werden von der Staatenwelt als Konkurrenz um nationale Ehre veranstaltet statt um Exporte, Währung und Gewaltmittel. Die Ehre der Nation ist dabei die ganz persönliche Sache der Fans selbst: Ihre Ehre ist mit den Siegen und Niederlagen der Nationalelf getroffen.

2. Die WM bietet eine Ausnahmesituation zum restlichen Alltag: Während der EM/WM ist Party angesagt, alle sind gut drauf und feiern einfach zusammen – als Deutsche, Franzosen usw. Was feiern sie da eigentlich? Ihre Gemeinschaft und ihren Erfolg. Bürger heben an der EM/WM das Gemeinschaftsgefühl, was sich hier erleben ließe, die Harmonie und Verbundenheit mit „allen“ positiv hervor.

Abgesehen davon, dass viele Leute schonmal als Nichtdeutsche usw. nicht zur Gemeinschaft gehören und eher Ab- als Zuneigung erfahren, soll mal geschaut werden was es mit diesem Gemeinschaftsgefühl auf sich hat.

2.1 Objektiv ist von der Gemeinschaft nicht viel zu sehen: Im Alltag stehen sich die Leute als Politiker und Untertanen, als Lehrer und Schüler, als Arbeitgeber und Arbeitnehmer usw. gegenüber. Die Organisation des materiellen Lebens ist von gesellschaftlichen Gegensätzen durchzogen: Arbeitgeber wollen Profit und nehmen den Lebensunterhalt ihrer Beschäftigten als Kosten in Betracht. Unternehmen konkurrieren um Marktanteile und Arbeitnehmer um Jobs. Politiker rufen fordern vom Volk regelmäßig mehr zu leisten und dabei bescheidener zu sein.

Von einer Gemeinschaft im Sinne gemeinschaftlich verfolgter Interessen ist also nichts zu sehen, stattdessen Konkurrenz.

2.2 Diese Konkurrenz wird auch von Bürgern gesehen, allerdings in verwandelter Form: Politiker denken zu sehr an sich und ihre Diäten oder persönliche Vorteile statt ans Volk, Unternehmer sind verantwortungslos oder profitsüchtig, Arbeitnehmer zu anspruchsvoll, Kollegen leisten zu wenig und verschaffen sich unverdiente Vorteile, Arbeitslose sind faul usw. Auch hier ist von Gemeinschaft nicht viel zu sehen. Aber in diesem Blick gelten die Taten der Einzelnen immer als Abweichung vom eigentlich anständigen Verhalten: Dauernd vergehen sich Einzelne aus Egoismus und Pflichtvergessenheit an der Gemeinschaft. Mit ihrem unanständigen Verhalten fügen sie der Gemeinschaft Schaden zu statt durch Anstrengung und Zurücknahme das Gemeinwohl voranzubrigen. Dass es die Gemeinschaft nicht gibt, sondern nur als Ideal und Forderung zeigt sich also auch hier. Statt aber die Gesellschaft dafür zu kritisieren, dass in ihr die materiellen Lebensinteressen immer gegen andere verfolgt werden müssen, kritisieren sie ihre Mitmenschen für mangelnde Pflichterfüllung. Auf diese Weise erhalten sich die Bürger die Vorstellung einer eigentlich bestehenden nationalen Gemeinschaft. Sie verwandeln sie nämlich in ein Ideal: Wenn nur jeder an seinem Platz in der Gesellschaft – alle Plätze gehen in Ordnung – verantwortungsbewusst wäre, dann käme auch für alle etwas heraus.

2.3 Die EM/WM bietet eine Ausnahmesituation zu diesem alltäglichen Gegeneinander. Hier steht man sich nicht als Kollegen oder Arbeitnehmer und -geber gegenüber, sondern als Deutsche. Von allen Interessen, die Leute so im Leben haben, sehen sie in dieser Eigenschaft ab. Was bleibt ist das Abstraktum Deutscher zu sein und diese abstrakte Eigenschaft bzw. das gemeinsame Für-Deutschland-Sein schließt sie zusammen mit allen anderen Deutschen. Weil es die Nation gar nicht als positive Gemeinschaft in der Wirklichkeit des bürgerlichen Alltags gibt, kann die Vorstellung nationaler Gemeinschaft nur neben oder getrennt von den alltäglichen Konkurrenzaffären verwirklicht werden, eben als Ausnahmesituation. Die sonst immerzu – wegen des „Egoismus“ und der „Verantwortungslosigkeit“ anderer – vermisste, bloß eingeklagte Gemeinschaft wird während der WM/EM einmal Wirklichkeit: Alle sind für Deutschland, alle feuern an und fiebern mit. Auf diese denkbar abstrakte Art und Weise, nämlich als das gemeinsame Bekenntnis zu Deutschland kann die sonst nur vorgestellte nationale Gemeinschaft erlebt werden. Und dieses Erlebnis ist Patrioten ein besonderer Genuss. In diesem parteilichen Bekenntnis sind sich Patrioten einig und auf diese Weise stellen sie die sonst vermisste Eintracht her. 

Auf diese Art und Weise kriegen es Patrioten hin, den ganzen gegensätzlichen Alltag – vom Lohnarbeiten, über’s Kinderziehen bis zum Steuerzahlen für das unwesentliche zu erklären zugunsten der Vorstellung vom großen Wir, das man ja eigentlich sei: „Wenn es nur immer so wie zur EM/WM wäre!“

2.4 Was also tun und feiern da Fans eigentlich? Während der EM/WM bestätigen sich Fans also die Richtigkeit ihrer Überzeugung: einer unverbrüchlichen Gemeinschaft anzugehören. Sie feiern sich in ihrer nationalen Identität. Das ist auch erstmal die Leistung der EM/WM: Die Moral nationaler Gemeinschaft wird hier erlebt und genossen. Insofern gibt der Party-Nationalismus eine Sichtweise auf den Alltag preis: Dass die Klassen- und Konkurrenzgesellschaft eine Gemeinschaft sei, in der alle an ihrem Platz ihren Beitrag für das großes Ganze zu leisten hätten. So wird neben den praktizierten Interessensgegensätzen und die Nation bestimmenden Über-, Unterordnungen sowie Ein- und Auschlüsse die Vorstellung nationaler Gemeinschaftlichkeit gepflegt. In der EM/WM feiern die Bürger*innen genau diese Geisteshaltung, mit der sie die Anforderungen von Staat und Kapital als ihre eigenen – Verantwortung! – wahrnehmen.

3. Anhänger der Nation rechnen sich Erfolge und Misserfolge der Nation als ihre eigenen an, so auch die Leistungen der fußballspielenden Repräsentanten der Nation: Ihr Erfolg macht deutsche Fans stolz und ihr Misserfolg traurig, schamvoll usw.

Ganz als ständen sie auf dem Feld, begreifen Patrioten das Spiel ganz als ihre Sache, weil hier ihre Nation repräsentiert wird. 

3.1 Der Bezug auf das Spiel ist dabei seltsam: Wegen der vorab feststehenden Parteilichkeit, ist Gewinn und Niederlage eben keine Frage des Spiels mehr, also eine durchaus unentschiedene Sache. Im Gegenteil: Vorab soll der Ausgang des Spiels feststehen, nämlich dass die eigene Nationalelf gewinnen soll. Auf den Sieg wird also bestanden, während die Niederlage als Schande gilt. Das ist insofern absurd als beim Fußballspiel immer eine Mannschaft verliert und die andere gewinnt und gerade der Nervenkitzel darin besteht, dass man nicht weiß wer gewinnen wird.

Warum ist das so? Anscheinend ist das nicht nur ein Spiel für die Fans, sondern eine Frage der nationalen und persönlichen Ehre. Wenn auf den Sieg bestanden wird, wird sich so etwas wie ein Recht auf Siege eingebildet, der eben der eigenen Nation zusteht und der andern nicht. Die Nation selbst scheint so großartig zu sein, dass sie einfach den Erfolg verbürgt. Recht auf Sieg heißt dabei immer: Unbedingte Durchsetzung gegen die anderen Nation.

3.2 Das Recht auf Erfolg/Sieg erfordert dann Einsatz von jedem Mitglied der Gemeinschaft: Von den Spielern, den Trainern, aber auch den Fans als „zwölftem Mann“. Jeder soll an seinem Platz mit seinen Fähigkeiten, das Seine zum Erfolg der Nation beitragen, um ihr Ehre zu machen: Die Spieler müssen „alles geben“ und „bis zum Ende kämpfen“ – durchhalten, kämpfen, aushalten sollen sie – sie sind es der Nation einfach schuldig! Die Fans sollen mindestens qua Bemalung und Zujubeln, hinter „ihren Jungs“ stehen, also ihre Bereitschaft zur Parteinahme demonstrieren. Jeder soll da einen Beitrag leisten und dieses geistige Sichreinhängen als das geilste überhaupt begreifen: Schwarz-rot-geil.

Den Leuten kommt das natürlich gar nicht als eine Verpflichtung vor, sondern für sie gibt es nichts normaleres. Ihnen ist die Parteilichkeit so selbstverständlich, dass sie ihnen erst auffällt, wenn man nicht genauso als Deutschlandflagge rumrennt: Das wird als Abweichung für seltsam befunden oder aber als Miesmachertum betrachtet und im Eskalationsfall mit Ausgrenzung per Beleidigung oder Gewalt beantwortet. An solchen Reaktionen jedoch könnte einem auffallen, dass es sich beim wieauchimmergearteten Einsatz für die Nation um ein Sollen handelt, das nicht einfach aus Neigung entstanden ist.

3.3 Im Siegesfall erfährt das Recht auf Sieg Erfüllung, der Nation geschieht ihr Recht. Alle freuen sich als hätten sie gerade im Lotto gewonnen und keine Sorgen mehr. Der eingetrene Erfolg, auf den die Nation ja eh Anspruch habe – erst recht eine „Fußballnation“ wie Deutschland – wird als Triumph über die anderen genossen. So bestätigen sich Fans, das was sie eh schon wussten: dass sie einer vortrefflichen Gemeinschaft angehören und loben sich gegenseitig dafür mächtig was beigetragen zu haben: Alle waren wahnsinnig tugendreich! Und ohne alle wäre das gar nicht möglich gewesen.

3.4 Im Fall der Niederlage geschieht der Nation ein Unrecht. Das, was nicht sein darf ist eingetreten, weswegen es nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann. Entweder waren die Schiris ungerecht oder die eigenen Spieler Flaschen oder das eigene Land hat den Sport zu wenig gefördert usw. So wird der Ausgang des Spiels als eigentliches Unrecht angesehen. Das heißt nicht unbedingt, dass der Sieg den anderen gleich ganz vergönnt wird – z.T. geben sich Fans dann ja auch geschlagen und gestehen den anderen zu, gut gespielt zu haben – dann sind sie allerdings zutiefst beschämt oder verachten die Spieler dafür Schande über ihre Nation gebracht zu haben – wo der doch eigentlich ganz was anderes zusteht. Wenn Fans sich partout nicht mit der Differenz von selbstgerechter Überzeugung der Überlegenheit der eigenen Nation und der wirklichen Unterlegenheit im Balltreten zufrieden geben wollen, eröffnen sie auch mal die „3. Halbzeit“, in der sie dann mit den anderen Wahnsinnigen klären, wer „das Sagen“ hat.

4. Nach der EM/WM (eigentlich auch die ganze Zeit währenddessen) definiert die Politik, worin die nationale Gemeinschaft wirklich besteht, indem sie ihren Inhalt vorgibt: Sie legt nämlich nach ihren Maßstäben fest, worin das nationale Gemeinwohl besteht und nimmt dafür ihre Untertanen als Lohnarbeiter_innen, Konsumt_innen, Versicherungsbeiträger_innen und Steuerzahler_innen in Gebrauch.

4.1 Die Vorstellung einer zusammenstehenden Gemeinschaft ist hierfür besonders produktiv. Die Überzeugung eine nationale Gemeinschaft zu sein, der der Erfolg zusteht, bekommt nun ihre Aufgaben und Herausforderungen vorgegeben. Die Politik nimmt den Gemeinschaftsgeist also in die Pflicht, wenn sie ihm einen Inhalt zuordnet: Die Nation braucht jetzt längere Lebensarbeitszeit, Innovationen, Einsatz für die Souveränität der Ukraine usw.

Es ist also der Staat, der festlegt, wofür der nationale Gemeinschaftsgeist da sein soll. Er greift dabei auf die Parteilichkeit seiner Untertanen zurück, die sich als Anhänger_innen der Nation auch vorgeben lassen, was jetzt konkret für ihr Vorankommen ansteht.

4.2 Die nationalistische Überzeugung der zum Einsatz verpflichtenden Zusammengehörigkeit entsteht nicht erst mit der WM, sondern wird hier abgerufen und gefeiert. Die Politik richtet die EM/WM also nicht ein, um den Nationalismus zu erzeugen, sondern um ihm Angebote zum Ausleben zu machen – auf diese Weise pflegt sie die für sie so nützliche Geisteshaltung.

5. Das heißt nicht, dass Nationalisten mit allen konkreten Beschlüssen und Forderungen der Politik einverstanden sind – sie sind schließlich bei der EM/WM auch nicht für Merkel, sondern für Deutschland! Unzufriedenheit gibt es mit jeder Reform und Mekeleien an allen Politikern. Diese Unzufriedenheit wendet sich aber dann eben auch immer nur gegen die einzelne Politiker oder die Umsetzung einzelner Maßnahmen und nicht gegen die Ämter der Politiker oder die Zwecke der Maßnahmen selbst. Eine grundlegende Entzweiuung kommt zwischen Volk und Führung deswegen nicht zustande, weil das Volk und die Führung im Anliegen die Nation voranzubringen einig sind. Während der EM/WM besuchen auch Politiker die Spiele, um die Einigkeit zwischen Volk und Führung zu präsentieren: Gemeinsam begeistert man sich für die Nation, oben und unten sind gleichermaßen der Nation verpflichtet. Die Politik organisiert nicht die Sache der Nation, sondern in der Ideologie diene auch sie der höheren Sache der Nation – so wie alle anderen auch. 

Einzelne Maßnahmen lassen sich dann als mangelhafte Wege des Erfolgsstrebens verbuchen; dass sich der nationale Erfolg aber gehört und dafür Einsatz erforderlich ist, ist von vornherein klar. Weil die Nation als Ideal, an dem sich alles auszurichten hätte, abgetrennt wird von der wirklichen, kann man mit der wirklichen Gemeinschaft zwar unzufrieden sein, aber immer nur als unverwirklichte. Nationalisten bringen es also fertig das Idealbild gegen seine schlechte Verwirklichung erbittert festzuhalten.

Fazit: Die EM/WM ist also insofern unpolitisch, als keine konkrete Maßnahme der Politik bejubelt wird – da hätte man auch wenig zu feiern: Längere Lebensarbeitszeiten, Niedriglohnsektor, Existenzunsicherheit, Harz IV, Kriege? Das Fest der Nationen ist aber insofern sehr politisch als hier einmal mehr die ganz prinzipielle Anhängerschaft zu Staat und Kapital – eben ideologisch verwandelt in eine nationale Gemeinschaft – zum Ausdruck kommt. Diese prinzipielle Anhängerschaft besteht dann auch in der prinzipiellen Bereitschaft sich herzugeben für die konkreten Erfordernisse, die im Namen der Nation dann anstehen. Insofern ist es ein politisches Bewusstsein was hier seinem Gehalt nach zum Ausdruck kommt: Ich gehör hierher, begreife die Gesellschaft und ihren Staat als die meinen und bin bereit ihnen zu nützen, sprich dienstbar zu sein.

6. Der Wettkampf der EM/WM hat etwas besonderes: Auch außerhalb der WM-Festivitäten treten die Nationen gegeneinander an: Sie konkurrieren um Absatzmärkte, Kredite, Währungen; um überlegene Gewaltmittel und die Durchsetzung als Rechtssetzende Instanzen. Diese Konkurrenz gehen sie ein, um ihren nationalen Erfolgsweg als kapitalistische Staatsgewalten zu verfolgen.

Um diese Konkurrenz geht es bei der EM/WM nicht. Keines der nationalen Interessen wird von Erfolg oder Misserfolg der Nationalelf befördert oder behindert; dennoch leisten sich die Staaten einen riesen Aufwand für diese Veranstaltung. Welches Interesse haben sie also an dieser Veranstaltung? Ein Volk, dass aus freien Stücken tut, was es soll. Ein Volk, dass nämlich eine intakte Moral besitzt, mit der es von sich und anderen den Einsatz für die Nation als verspürt und verlangt. Ein Volk, das nicht erst Bedingungen stellt, um mitzumachen, sondern von vornherein bereit ist Beiträge für die Nation zu leisten statt das als ausbeuterische Ansprüche der Herrschaft von sich zu weisen.

7. Falsche Kritiken an der WM:

7.1 „Brot und Spiele“ / „Bestechung“: Antike Herrscher haben mit der Öffnung der Kornkammern und der Belustigung des Volks beim Volk um Zustimmung zu sich als Herrscher geworben, also um persönliche Anhängerschaft. Im Unterschied dazu hat die moderne EM/WM aber ihren Reiz darin, dass die Zustimmung zu einer im übrigen unpersönlichen Herrschaft ausgelebt werden kann, eben als Jubel über die eigene Nation. Die Zustimmung ist bei dem Fest also vorausgesetzt. Es kursiert auch gar nicht das Bild, das die Politik „uns“ jetzt mal wieder eine EM/WM zum Freuen und Entspannung verschafft oder weil wir die uns verdient haben, sondern alle freuen sich wie wahnsinnig auf die WM und können es kaum erwarten, dass es losgeht.

7.2 „Eigentliche Profiteure“: Linke verweisen gerne auf große Unternehmen, die ein großes Geschäft aus der WM machen. Das ist nicht zu bestreiten, schließlich beauftragen die Gastgeberländer Firmen für die Herrichtung der EM/WM-Stätten und am Nationalismus der Völker lässt sich qua Merchandise-Artikel-Verkauf auch prächtig verdienen. Erklären tut sich die ganze Veranstaltung daraus aber nicht. Schließlich braucht es Volk, das so etwas kaufen will und Staaten, die überhaupt eine derartige Veranstaltung in Auftrag geben. Dementsprechend werden Staaten und Volk dann auch etwas von der EM/WM haben.

8. Als Wettbewerb bietet die EM/WM Fläche für Ideologie:

8.1 ‚Fairness‘ als Ideal: Nicht die ökonomischen und Gewaltmitteln würden entscheiden, sondern die reine sportliche Leistung. Hier habe jeder eine Chance. Das wird als gutes Bild über den Wettbewerb verkauft – ganz ähnlich soll man sich die Konkurrenz auf dem Weltmarkt dann auch denken. Dabei muss man aber unterschlagen, dass sie hier das Gewinnen und Verlieren eben kein Spiel ist, sondern über die materiellen Lebensbedingungen entscheidet. Dabei muss man auch unterschlagen, dass das Abschneiden in der Konkurrenz Grundlage für die nächste Runde ist: Verlierer haben damit schlechtere Karten oder scheiden aus, während die Gewinner der Konkurrenz mehr Mittel akkumuliert haben, um die neue Runde für sich zu entscheiden. Selbst wenn es einfach pur nach Leistung zuginge: Warum soll eigentlich die Versorgung an die Leistung geknüpft sein? Braucht denn jemand weniger, weil er weniger arbeiten kann?

8.2 Sport als Vergleich abstrakter Leistungsfähigkeit: Staaten veranstalten den ideellen Wettbewerb zwischen sich nicht zufällig als Sportveranstaltung. Hier findet eine unmittelbares körperliches Kräftemessen der Elitesportler der Nation statt, die wiederum Repräsentanten der Nation sind. Sie verkörpern damit die abstrakte Leistungsfähigkeit und die dazu gehörigen Tugenden (durchhalten, Kampfgeist usw.) der Nation. Das hat zum einen die Seite des Angebens gegenüber anderen Nationen: Solche sind wir, aber zum anderen eben das Identifikationsangebot ans eigene Volk: Solche sind wir!